Das Prinzip Hamsterrad:Abgang auf Raten

Edmund Stoibers Hoffnung liegt in der Hyperaktivität, damit alles wieder gut wird - doch die CSU steuert auf einen quälend langen Abschied zu.

Peter Fahrenholz

Manchmal sind es Kleinigkeiten, die sich in die Seele brennen, und deshalb kann es gut sein, dass Edmund Stoiber die ersten Gedanken an eine Flucht aus Berlin am frühen Morgen des 18. Oktober kamen. Er ist zwar ein Arbeitstier, aber er hasst es, früh aufstehen zu müssen.

Stoiber, ddp

Nach fünf Stunden Parteischelte: Nicht wirklich begriffen, worum es geht.

(Foto: Foto: ddp)

Auch deshalb ist er an jenem Morgen zum ökumenischen Eröffnungsgottesdienst des Bundestags erst in letzter Minute in den Französischen Dom gekommen. Was sollte auch schon groß passieren, wird er sich gedacht haben, und ist vorgestürmt in die erste Reihe. "Aber zack - da war alles voll", beschreibt ein CSU-Kollege die Szene.

Für Stoiber, der in Bayern gewohnt ist, wie ein Pharao empfangen zu werden, war kein Platz reserviert, keiner in der ersten Reihe und auch nicht dahinter. Mit Entsetzen erinnern sich Augenzeugen daran, wie der völlig konsternierte Stoiber mit seinem persönlichen Referenten an der Seite durch die Kirche geirrt ist auf der Suche nach einem freien Platz.

Unentwegte Demütigungen

Irgendwo an der Seite in der fünften Reihe ist er dann untergekommen, in die Reihe vor ihn hat sich die SPD-Abgeordnete Monika Griefahn platziert. Da habe er dann gesessen, der arme Edi, schildert ein CSU-Abgeordneter, in dieser kargen Kirche ohne Kreuz und ohne Blumenschmuck, habe gefroren. Und in seinem Blick habe Verzweiflung gelegen und der Wunsch: Bloß weg hier!

Irgendwelchen Widrigkeiten ist Edmund Stoiber in seinen wenigen Berliner Wochen seit der Wahl immer wieder begegnet, privat und politisch. Zu den privaten gehört, dass seine Frau Karin partout nicht nach Berlin wollte. Die Wohnungssuche des Ehepaars Stoiber soll sich deshalb etwas schleppend gestaltet haben.

Zu Hause in Wolfratshausen stand die Geburt des dritten Enkelkindes an, und es soll eine schwere Geburt gewesen sein. Und politisch? Da ist Stoiber aus seiner Sicht unentwegten Demütigungen ausgesetzt gewesen. In der Fraktion hat sich irgendein Hinterbänkler gemeldet und ihn angemotzt, wie er denn dazu komme, die Richtlinienkompetenz für Angela Merkel anzuzweifeln.

Kurioser Abgang in zehn Minuten

Donnernden Applaus hat er dafür bekommen, doch bei Stoibers matter Erwiderung hat sich keine Hand gerührt. Und bei den Kompetenzen für sein neues Ministerium hat ihn Merkel eiskalt zappeln lassen, trotz unzähliger Interventionen, und obwohl doch alles auf Chefebene festgezurrt worden war.

"Der war erschüttert, wie das da oben läuft", sagt einer seiner langjährigen Vertrauten, "er hat gemerkt, dass das System Stoiber in Berlin nicht funktioniert." Und dann hat er etwas fürchterlich Dummes getan.

Zum ersten Mal in seinem Leben hat er in zehn Minuten etwas entschieden, als die Unionsrunde von der Meldung aufgeschreckt wurde, dass Franz Müntefering den SPD-Vorsitz hinwirft. "Da hat er die Escape-Taste Müntefering gedrückt", sagt ein CSU-Präside. Und die Botschaft sofort streuen lassen.

Weil sich mit Münteferings Abgang, der sich wenig später nur als halber Abgang entpuppte, die Statik der geplanten Koalition geändert habe, könnte ihr auch Stoiber jetzt nicht mehr angehören, lautet seither die offizielle Lesart. Kurioser ist noch nie in der bundesrepublikanischen Geschichte ein Rückzug begründet worden, der in Wirklichkeit eine Fahnenflucht ist.

Die befremdeten Freunde

Seither herrscht an der CSU-Basis ein Aufruhr, der an den Milliardenkredit von Franz Josef Strauß 1983 für die DDR erinnert. Ungeniert ziehen Orts- oder Kreisvorsitzende nicht anonym, sondern ganz öffentlich über Stoiber her, in Briefen und E-Mails machen empörte Parteimitglieder ihrem Unmut Luft.

Noch schlimmer ist die Reaktion in der Bevölkerung. Ausgerechnet das sonst meist regierungsfromme Bayerische Fernsehen hat am Dienstag einen Beitrag ausgestrahlt, der vor wenigen Wochen noch undenkbar gewesen wäre. Eine Reporterin hatte sich einen Edmund Stoiber aus Pappmachee in Originalgröße unter den Arm geklemmt und den Pappkameraden in der Münchner Fußgängerzone Passanten präsentiert. Die Reaktionen lassen sich ungefähr so zusammenfassen: Der brauche nicht mehr daherkommen, der sei nicht mehr wählbar.

Am Mittwoch, vor der Landtagsfraktion, hat der von Stoiber 1999 als Justizminister entlassene Alfred Sauter die Katastrophe mit einem knappen Satz auf den Punkt gebracht: "Edmund, du hast den Bayern ihren Stolz genommen und dem Freistaat seinen Nimbus." Einen feigen Hund mögen die Bayern nicht, und bei allem Stänkern gegen Berlin - ernst genommen werden will man dort schon.

Stoiber versteht die Welt nicht mehr

Stoiber hat das Schlimmste getan, was ein bayerischer Ministerpräsident tun kann: Er hat mit seinem Verhalten sein Land zum Gespött gemacht. Am Sonntagabend, bei Sabine Christiansen, war der Thüringer Ministerpräsident Dieter Althaus, ein enger Merkel-Freund, immer hämisch feixend zu sehen, wenn die Rede auf Stoiber kam.

Doch Stoiber fehlt mehr als nur das Gespür für die Brisanz der Situation: Er versteht schlicht die Welt nicht mehr. Dass sich seine eigenen Gefolgsleute schnöde von ihm abwenden, hält er für groben Undank von Leuten, die keinen Schimmer davon haben, wie er sich an allen politischen Fronten aufopfert.

"Edmund Stoiber findet das alles sehr ungerecht", sagt einer aus seinem Münchner Kabinett. Der CSU-Chef, beschreibt es ein anderer aus der Berliner Landesgruppe, sei "innerlich empört", dass sein Beitrag zur Rettung des Landes nicht anerkannt werde. Dass er in den eigenen Reihen ein Erdbeben ausgelöst hat, das ihn selbst mit in den Abgrund reißen könnte, registriert er nicht.

Abgang auf Raten

CSU Landesgruppe: "Stoiber ein gerupftes Huhn"

Allerdings wird seine Hoffnung, dass nach der kopflosen Flucht und der verkorksten Reise mit der Landtagsfraktion nach Rom sich alles rasch wieder einrenken wird, zunächst noch genährt. Die CSU-Landesgruppe, die noch nie sein Fanclub war, hisst nach den ersten Tagen des Aufruhrs schnell die weiße Flagge.

Die Jagd auf Stoiber sei abgeblasen, heißt es. Das hat freilich nichts mit einer neu entdeckten Passion für den gebeutelten Parteichef zu tun, was Stoiber eigentlich erkennen sollte. Es ist schlichtes Eigeninteresse. Den CSU-Bundestagsabgeordneten kann nicht daran gelegen sein, dass ihr Parteichef in Berlin noch weiter demontiert wird.

Denn damit würde auch ihr eigener Marktwert immer weiter sinken. Also ist die Truppe um den schlitzohrigen Michael Glos plötzlich wieder lieb zu Stoiber, obwohl man ihm zuvor wegen des brachial durchgeboxten Ministeramtes für den Außenseiter Horst Seehofer noch mit Eiseskälte begegnet war. Stoiber sei im Augenblick "ein gerupftes Huhn", heißt es in der Landesgruppe. "Und wir päppeln dieses Huhn auf und geben ihm ein neues Federkleid."

Es regnet Wut

Das sieht in München ganz anders aus. Denn die bayerischen Abgeordneten bekommen die Empörung an der Parteibasis hautnah mit. Sie haben wegen des persönlichen Ehrgeizes von Stoiber, seinem nie begrabenen Traum von der Kanzlerschaft, jahrelang alles geschluckt, haben einen hektischen Reformkurs mitgetragen, von dem längst nicht alle überzeugt waren. Jetzt mögen sie nicht mehr. Sie hatten sich schon auf die Zeit nach Stoiber gefreut.

Die Fraktionssitzung am Mittwochnachmittag wird so zu einer gespenstischen Veranstaltung. Nicht nur, weil sie fünf Stunden dauert. Sondern weil auf ihr die erschreckende Entfremdung zwischen Stoiber und seinen Leuten deutlich wird wie nie zuvor.

Nicht die Berater in der Staatskanzlei, an denen sich jetzt die Wut der Partei abregnet, sind das Problem, Stoiber selber ist es. Er ist in den langen Jahren an der Spitze zum Autisten geworden, überzeugt davon, er allein könne das Wohl der CSU garantieren.

Loslassen ist nicht Stoibers Sache

Während der Aussprache kommen immer wieder Abgeordnete vor den Saal und schütteln den Kopf. Stoiber kapiere überhaupt nicht, was los sei, er erfasse die Stimmung nicht.

Ein älterer Abgeordneter beschreibt die Situation im Saal so: Das sei wie bei einem Ehepaar, wenn sich die Frau darüber beschwert, dass sie zu wenig Aufmerksamkeit bekomme und der Mann zur Antwort gebe: aber Schatz, ich hab dir doch gerade erst einen neuen Ring geschenkt.

Die Abgeordneten hoffen auf Reue und Einsicht, eine Entschuldigung. Doch Stoiber redet davon, dass er sich künftig noch mehr um Bayern kümmern wolle. Der Mann im Hamsterrad glaubt, wenn er noch schneller tritt, wird alles wieder gut.

Einfach loslassen hat Stoiber noch nie gekonnt. Einmal das Telefon abstellen, Fax und Handy ausschalten, die politischen Teile der Zeitungen in die Mülltonne stopfen, seinen jüngsten Enkel auf den Knien schaukeln, oder einfach nichts tun, gar nichts. Stoiber würde dann wohl glauben, die Leute hielten ihn für einen Faulpelz. Doch die Leute würden vielleicht denken: Endlich ist er mal menschlich.

Anfang vom Ende und Schrecken ohne Ende

Am Ende der fünf Stunden findet Stoiber wenigstens ein paar verständnisvollere Worte, aber wirklich begriffen, worum es geht, hat er nicht. Erinnerungen werden wach an einen anderen Ministerpräsidenten, der auch den Kontakt zur Realität verloren hatte. Bei Max Streibl 1993 war die Stimmung ähnlich.

Und auch die Treueschwüre klingen gleich. Einen Neuanfang solle es jetzt geben, wird versichert, natürlich mit Edmund Stoiber. Es wirkt eher wie der Anfang vom Ende. Bleich und abgekämpft, mit glasigen Augen und hängenden Schultern steht Stoiber nach der Sitzung da und erzählt irgendwas von den künftigen Schwerpunkten der Landespolitik. Der Abschied zwischen Edmund Stoiber und der CSU dürfte ein langer, quälender Prozess werden.

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