Das neue Lateinamerika:Ein Kontinent befreit sich selbst

Viele Länder Südamerikas rechnen derzeit ab: mit Neoliberalismus aus Washington, der Weltbank, den Folgen der Diktaturen. Die Industrie wirft den Linksregierungen deshalb Populismus vor. Aber ragen sie nicht wie ein Fels der Hoffnung aus der kapitalistischen Weltgesellschaft heraus?

Sebastian Schoepp

"Que se vayan todos!" - Sie sollen alle abhauen! Das sind die Rufe, die Ende 2001 durch die Straßen von Buenos Aires hallen. Sie richten sich an Politiker, Generäle, Oligarchen - eben alle, die nach Meinung der Demonstranten in die eigene Tasche gewirtschaftet und den Absturz Argentiniens verursacht haben. Das Land liegt am Boden, kann seine Schulden nicht mehr bezahlen, die Wirtschaft ist nach Jahrzehnten des Missmanagements kollabiert. Das einstmals prosperierende Argentinien gilt als "Reich der verpassten Möglichkeiten".

Das neue Lateinamerika: Proteste für die Regierung: Ein Demonstrant hält in Buenos Aires ein Plakat, mit dem er zur Unterstützung der Verstaatlichungspläne von Präsidentin Cristina Fernandez de Kirchner aufruft.

Proteste für die Regierung: Ein Demonstrant hält in Buenos Aires ein Plakat, mit dem er zur Unterstützung der Verstaatlichungspläne von Präsidentin Cristina Fernandez de Kirchner aufruft.

(Foto: AP)

Die politische Klasse nimmt die Aufforderung der Straße ernst. Die Präsidentenwürde wird herumgereicht wie eine heiße Kartoffel, mehrere Interims-Staatschefs geben sich in wenigen Wochen die Klinke der Casa Rosada in die Hand, alle scheitern.

Es ist die Stunde eines Mannes, mit dem niemand gerechnet hatte. Néstor Kirchner, der seine Kandidatur für das Präsidentenamt anmeldet, ist ein schielender, nuschelnder Anwalt mit schroffen Umgangsformen aus dem windigen Süden, der in der Presse "Pinguino" genannt wird. Als Student sympathisierte er mit der linken Stadtguerilla der Montoneros, später amtierte er als Provinzpolitiker in Patagonien. Im Land ist er kaum bekannt. Und dieser Mann will Argentinien retten?

An die Macht kommt Kirchner nur, weil sein Gegenkandidat Carlos Menem bei der Stichwahl 2003 aufgibt. Menem hatte in den 1990er Jahren das Land als Präsident in den Augen einer großen Mehrheit ruiniert. Durch seine musterschülerhafte Befolgung von neoliberalen Rezepten aus Washington, durch Industrieabbau und Verkauf nationaler Industrien an ausländische Konzerne, die sich später als äußerst investitionsunwillig erwiesen.

Selbstvertrauen für ein gedemütigtes Land

Néstor Kirchner weist als erstes Weltbank und Internationalem Währungsfonds die Tür. Dann handelt er einen Schuldenschnitt aus, bei dem Anleger auf der ganzen Welt eine Menge Geld verlieren, der Argentinien aber wieder Bewegungsfreiheit verschafft. Kirchners rüdes Auftreten ruft bei Diplomaten und Bankern Naserümpfen hervor - zuhause bringt ihm die Arroganz Sympathie ein, denn viele Argentinier machen die internationalen Organisationen für die Misere verantwortlich.

Das gedemütigte Land gewinnt Selbstvertrauen, Voraussetzung für einen Aufschwung. Buenos Aires erblüht, der alte Hafen wird saniert und zur mondänen Ausgehmeile umgebaut. Überall eröffnen schicke Designrestaurants, der billigere Peso bringt nach der Aufhebung der fatalen Dollarbindung das Land auf die touristische Landkarte zurück. Auswanderer kehren zurück. Und man tanzt wieder Tango, der in den Jahren des bestimmenden US-Einflusses aus der Mode gekommen war.

Kirchners nachhaltigste Leistung aber ist vielleicht, dass in seiner Regierungszeit die Amnestien für Folterer revidiert werden, die Präsident Menem erlassen hatte. Die Junta-Generäle aus der Diktaturzeit müssen erneut vor Gericht. 30.000 Menschen sollen ihrer systematischen Verfolgung von 1976 bis 1983 zum Opfer gefallen sein.

Anachronismus oder Fels der Hoffnung?

Kirchners Politik schafft ein Klima, in dem die Gesellschaft mehr als zwanzig Jahre nach dem Ende der Diktatur endlich mit einer Aufarbeitung beginnen kann. Ähnliches geschieht in Uruguay und Chile, wo sich Präsidentin Michelle Bachelet an die Verfolgung der Schergen des Diktators Pinochet macht, die ihren eigenen Vater ermordet hatten.

Cristina Fernandez de Kirchner, Nestor Kirchner

Cristina Fernandez de Kirchner und ihr Mann Nestor Kirchner lassen sich in Buenos Aires nach einer Rede feiern.

(Foto: AP)

Die steigenden Einnahmen durch den Rohstoffexport investiert Kirchner zum Teil in Sozialprogramme - eine Politik, die von seiner Ehefrau und Nachfolgerin Cristina Fernández de Kirchner nach ihrem Wahlsieg 2007 fortgesetzt wird. Außerdem revidiert sie viele Privatisierungen aus der Menem-Zeit, um die "nationale Souveränität über die Wirtschaft wiederzuerlangen". Rentenversicherung, Fluglinie und Ölfelder kehren zurück unter die Obhut des Staates. Gerade versucht sie, den größten Ölkonzern des Landes unter staatliche Kontrolle bringen.

Damit knüpft Fernández de Kirchner an die Autarkiepolitik des Parteigründers Juan Domingo Peron an, der Argentinien, gestützt auf die Gewerkschaften, in den 1940er und 50er Jahren zur südamerikanischen Großmacht ausbauen wollte - dabei freilich scheiterte. Fernández de Kirchners Politik ist darob heftig umstritten. Sie hat mit erbittertem Widerstand zu kämpfen, der durch ihr barsches Auftreten befeuert wird. Bürgertum und Industrie werfen ihr Populismus und Eigennutz vor.

Dieses Urteil wird häufig über die linksgerichteten Politiker Lateinamerikas gefällt - allen voran über Hugo Chávez aus Venezuela, dessen markige Rhetorik dem lateinamerikanischen Eigensinn weltweite Aufmerksamkeit sichert. Doch weder Kirchner noch Chávez noch Lula in Brasilien stellen die Marktwirtschaft grundsätzlich in Frage. Sie versuchen nur - jeder auf seine eigene Art -, sie mit den Mitteln des Staates zu bändigen. "Alles, was in Brasilien geschieht, muss den Brasilianern zu Gute kommen", lautet Lulas Credo. Chávez verleiht den zuvor marginalisierten Massen Repräsentanz und Stimme, was seine erdrutschartigen Wahlsiege erklärt, er scheitert jedoch letztlich, weil er über das Ziel hinausschießt und den korruptionsanfälligen Staatsapparat überbläht.

"Ein Fels der Hoffnung"

Im bettelarmen Bolivien wird 2006 der frühere Kokabauer Evo Morales vom Volk der Aymara zum ersten indigenen Präsidenten Südamerikas seit der spanischen Eroberung gewählt. Bei seiner Antrittsrede auf der Plaza Murillo in La Paz erinnert er daran, dass bis noch vor wenigen Jahrzehnten Indios keinen Zutritt zu dem Platz hatten. Er verspricht, die noch immer verbreitete De-facto-Apartheid abzuschaffen. Dazu kommt eine Prise Anden-Sozialismus, mit dem er den marktliberalen Kurs seiner Vorgänger korrigieren will. Morales verstaatlicht Öl- und Gasquellen, das ermöglicht erstmals in der Geschichte des Landes Ansätze eines Sozialsystem. Seine weiteren Wahlsiege geben auch den indigenen Gemeinschaften in den umliegenden Ländern neue Impulse, für die Anerkennung ihrer Lebensweise zu kämpfen, wobei dabei zunehmend Laptop und Internet statt Speer und Blasrohr zum Einsatz kommen.

Das alles führt dazu, dass Lateinamerika nach Jahren der weltpolitischen Einsamkeit in die internationalen Nachrichten zurückkehrt. Der Kulturwissenschaftler Constantin von Barloewen ernennt den Halbkontinent zur "Werkstatt der Weltzivilisation": Er schreibt: "Die neuen politischen Bewegungen Lateinamerikas ragen für die Kritiker wie ein Anachronismus, für andere aber wie ein Fels der Hoffnung aus der kapitalistischen Weltgesellschaft heraus." Wie auch immer man dazu steht, eines steht fest: "Que se vayan todos", "sie sollen alle abhauen", ruft derzeit niemand mehr.

Sebastian Schoepp beschäftigt sich als außenpolitischer Redakteur der SZ und Buchautor mit Lateinamerika. Innerhalb der Serie "Das neue Lateinamerika" wird noch ein weitere Texte von ihm auf Süddeutsche.de erscheinen. Im ersten Teil hat Schoepp beschrieben, wie der einstige Verliererkontinent die historische Wende geschafft hat.

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