Chinesische Austauschstudenten in Taiwan:"Wie wir, nur anders"

Taiwan

Versuchslabor Taiwan: Wie verändern sich die chinesischen Austauschstudenten?

(Foto: REUTERS)

Es ist ein spannendes Experiment und ein kleines Wunder: Seit 1949 sind die Volksrepublik China und Taiwan getrennt, seit 2008 dürfen Festland-Chinesen zum Auslandsstudium auf die Insel kommen. Sie erleben Demokratie, einen anderen Lebensstil und schmökern in verbotenen Büchern. Doch je näher man dem anderen kommt, umso fremder wird man sich.

Von Kai Strittmatter, Taipeh

Der erste Eindruck? Kathy überlegt nicht lange. "Wir landeten. Ich schaute aus dem Fenster und sah neben uns ein Flugzeug von Eva Air. Das ganze Flugzeug war vollgemalt mit Hello-Kitty-Kätzchen." Thomas: "Das Terminal war so heruntergekommen wie bei uns irgendwo im Hinterland, ich war erst einmal ernüchtert." Peter: "Ich dachte, unglaublich: Taipeh hat gar nicht so viele Hochhäuser wie unsere Städte. Eigentlich wirkt es auf den ersten Blick wie eine Kreisstadt bei uns." Thomas: "Und dann merkst du bald, es ist gar nicht die Hardware das Wichtigste, wie bei uns. Es ist die Software. In dieser Stadt ist Leben."

Kathy, Thomas und Peter heißen anders. Sie sind 20 und 21 Jahre alt, studieren Wirtschaft und Umweltingenieurswesen und haben die Namen gewählt, weil ihnen vor der Abreise in China gesagt wurde, sie dürften dort in Taiwan nicht mit Journalisten sprechen. Es wurden ihnen auch andere Dinge gesagt: Haltet euch fern vom "bösen Kult" der Falun-Gong-Sekte, die in China verboten ist, in Taiwan aber frei praktiziert. Vertretet unbeirrt den Standpunkt vom einen, unteilbaren China, dessen ewiger Teil Taiwan ist. Wenn sie nach sechs Monaten zurückkehren, dann müssen sie für ihre Heimatbehörden einen "sixiang baodao" schreiben, ein "Gedankenprotokoll" über ihre Erlebnisse und Eindrücke.

Ein spannendes Experiment: Chinesen kommen zum Studium nach Taiwan

Es ist ein kleines Wunder, dass sie hier sind: 1949 endete der Bürgerkrieg in China. Mao Zedongs Kommunisten übernahmen die Macht in Peking, Chiang Kai-sheks unterlegene Kuomintang (KMT) floh auf die Insel Taiwan. Seither gibt es zwei Chinas: hier in Peking die Volksrepublik China. Dort auf Taiwan die Republik China, in Europa nur vom Vatikan anerkannt, de facto aber ein Staat. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang war Festland-Chinesen der Schritt auf die Insel Taiwan verwehrt, aber seit der Wahl von KMT-Mann Ma Ying-jeou zum Präsidenten 2008 herrscht Tauwetter: Ma erlaubte Direktflüge, er öffnete die Grenze für Touristen vom Festland und bald auch für Studenten.

Und jetzt sind sie hier. 10.000 sind bisher gekommen. Zuerst die jungen Austauschstudenten wie Kathy, Thomas und Peter, die nur für ein halbes Jahr bleiben. Seit zwei Jahren dürfen auch die Älteren kommen, die hier ihren M.A. oder Doktor machen. Leute wie der 25-jährige Psychologiestudent Hue aus Guangdong, den sein taiwanischer Professor empfing mit den Worten: "Wenn du hier bleibst, dann wirst du nurmehr schwer in dein altes Leben zurück können." Jetzt, zwei Jahre später, sagt Hue: "Tatsächlich, ich bin ein anderer geworden." Es ist ein spannendes Experiment. Junge Chinesen reisen zum Studium in das andere China, in jenes China, das sich vor einem Vierteljahrhundert auf den Weg in die Demokratie aufmachte.

Es studieren auch Zehntausende Chinesen in den demokratischen Ländern des Westens. "Aber Taiwan ist anders", sagt Hue. "Hier sprechen die Menschen unsere Sprache, sie leben unsere Kultur. Und ihre Gesellschaft hat uns etwas zu sagen: Früher waren sie doch wie wir. Wir hatten den roten Terror Maos, sie den weißen Terror der KMT. Die Taiwaner haben hart gearbeitet für das, was sie nun haben." Ma Jun, ein 26 Jahre alter Student der Verwaltungswissenschaften aus Xiamen sagt, wenn er in den vergangenen zwei Jahren etwas gelernt habe, dann dies: "Die Mär vom Chinesen, der nicht zur Demokratie taugt, ist Blödsinn." Chinesen, die frei und direkt ihren Präsidenten wählen - Ma Jun hat das 2012 in Taiwan erlebt. "Und was ich gesehen habe, war eine reife Gesellschaft, die ihre Konflikte friedlich löst. Keine Spur von dem Chaos, als das unsere Propaganda Taiwans Demokratie immer hinstellt."

Peking hat auf die Öffnung gedrungen, Taiwan hat gezögert

Es ist keineswegs so, dass die Studenten vornehmlich auf der Suche nach der Demokratie hierherkommen. "Um ehrlich zu sein", sagt Ma Jun: "Die meisten von uns sind hier, weil unsere Noten nicht gut genug waren für die USA oder England." Doch nimmt sie das Leben in Taiwan sehr schnell ein, das so ganz anders ist, als sie es von zu Hause kennen.

"Zu Hause herrscht gewaltiger Druck, brutaler Konkurrenzkampf, die Nerven der Leute sind ständig gespannt", sagt Wirtschaftsstudent Thomas. "Hier verlangsamt sich dein Schritt. Man genießt das Leben." Und man geht anders miteinander um. Einen Satz hört man immer wieder, er ist ein Ausdruck des Erstaunens, das viele der jungen Festländer ereilt: "Wahnsinn, so können Chinesen also auch leben." Peter sagt das, und Kathy und Hue sagen es auch. "Die Freundlichkeit, die Mitmenschlichkeit hier sind erstaunlich", sagt Hue.

Peking hatte lange auf die Öffnung gedrungen, es war stets das kleine Taiwan, das zögerte: Man hat auf der 23-Millionen-Einwohner-Insel noch immer große Angst vor einer zu engen Umarmung durch das 1,3-Milliarden-Volk auf der anderen Seite der Meerenge. Aber weiß die KP, auf was sie sich da eingelassen hat?

Geisteswissenschaftlern erlaubte die Partei die Bewerbung zunächst nicht, zudem mussten die Kandidaten aus den wohlhabenden Küstenprovinzen, aus Shanghai oder Peking kommen: "Man dachte wohl, Leute wie wir seien weniger anfällig für die Verlockungen der Demokratie", sagt Ma Jun. Gekommen seien "tolle Studenten, intelligent und meist fleißiger als unsere eigenen", sagt Wu Jieh-min, Soziologe an der Tsinghua-Universität und Mitglied der Academia Sinica. "Aber die KP hat da genug Selbstvertrauen. Selbst wenn sie Tausende schicken, die sich das Virus der Demokratie einfangen - gemessen an der Zahl der anderen sind das immer noch so wenige, das juckt Peking nicht."

"Je mehr Taiwan und China sich kennenlernen, umso fremder werden sie sich"

Als Neuankömmlinge sind die meisten noch vorsichtig, halten sich zurück im Gespräch, achten peinlichst darauf, dass auf Erinnerungsfotos nicht die Flagge Taiwans zu sehen ist. Oder Taipehs "Platz der Freiheit". Aber schon früh gehen sie in die Buchläden, stöbern in all den Büchern, die zu Hause verboten sind. Thomas hat den Bestseller "Großer Strom, großes Meer" der Autorin und Kulturministerin Long Yingtai im Rucksack: Geschichten aus dem Jahr 1949 über die Verbrechen der KMT und der KP. Kofferweise brächten er und seine Kommilitonen verbotene Bücher zurück aufs Festland, erzählt Hue. "Wir reißen vorher die Umschlagseiten ab."

Einige besuchen Debattierklubs oder gar die Veranstaltungen von Wang Dan, dem ehemaligen Studentenführer vom Platz des Himmlischen Friedens, der nach dem Massaker von 1989 in die USA floh und im Moment als Professor in Taiwan lebt. Manche werden dann nach ihrer Rückkehr von der Staatssicherheit befragt: Man habe sie gesehen. Und doch schreckt das vor allem die Älteren nicht.

Psychologe Hue hatte sich schon zu Hause in Guangdong in Bürgergruppen für Denkmal- und Umweltschutz engagiert. Er sammelt nun Material über Graswurzelbewegungen, bringt das zurück nach China. Zudem will er Taiwaner einladen. "Wenn du in China als Bürger Dinge bewegen willst, erntest du nichts als Frust", sagt er. "Taiwan gibt mir Hoffnung." "Der Weg Taiwans ist auch ein möglicher Weg für China", sagt der Verwaltungswissenschaftsstudent Ma Jun.

Es gibt auch einiges, was die Studenten enttäuscht. Allen voran die Skandal- und Krawallkultur in Taiwans Medien. Da sagt dann auch einer wie Thomas, der gerade noch die Meinungsfreiheit in Taiwan gepriesen hat: "Da sind mir unsere Medien lieber." Und es gibt einiges, was sie irritiert: Die Tatsache, dass vier von fünf Taiwanern mit der Wiedervereinigung nichts am Hut haben. "Das war ein Schock", sagt Hue. "Ich dachte, wir sind alle Chinesen, Freunde, Familie. Und hier sagen alle: Nein, wir sind Taiwaner." Versteht er das? "Klar, jetzt verstehe ich das. Aber gefühlsmäßig widerstrebt es mir." Auch, sagen sie, hätten die meisten Taiwaner keine Ahnung vom heutigen China. "Wir verstehen uns nicht", sagt Hue. "Die Distanz ist zu groß." Eigentlich war der Studentenaustausch ins Leben gerufen worden, um diese Distanz zu verringern. Ma Jun hat viele Taiwaner als Freunde. "Aber je mehr Taiwan und China sich kennenlernen", glaubt er, "umso fremder werden sie sich."

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