Chinas Umgang mit Dissidenten Chen:"Herunterspielen, entschädigen, ausreisen lassen"

Wenn sich Chinesen über den Dissidenten Chen Guangcheng informieren wollen, müssen sie seinen Codenamen kennen. Die Zensur ist streng. Doch das Regime in Peking zeigt sich nun überraschend kooperativ: Chen könnte schon bald in die USA ausreisen dürfen. Doch was passiert dann mit seiner Familie in China?

Sebastian Gierke

Die Welt spricht über den blinden chinesischen Anwalt und Dissidenten Chen Guangcheng. Die Welt spricht über China, über Menschenrechtsverletzungen und den Umgang mit Widerständlern im Land.

Chen Guangcheng mit Familie

Chen Guangcheng mit seiner Familie. Was passiert, wenn der Dissident in die USA ausreist?

(Foto: dpa)

China spricht jedoch nicht über Chen Guangcheng. Zumindest nicht im Internet. Dort ist von "C-Guang-C" die Rede. Oder von dem "blinden Rechtsanwalt" , dem "blinden Mann", oder von "A Bing". Das ist ein blinder chinesischer Volksmusiker. Wie die anderen Begriffe wird sein Name jedoch als Synonym für Chen verwendet, den Dissidenten, den es in China laut Staatsräson eigentlich nicht geben dürfte, und den das Regime loswerden will.

Immer neue Umschreibungen müssen sich die Menschen in China deshalb einfallen lassen, wenn sie sich über den 40-Jährigen Aktivisten, der 2005 Widerstand gegen brutale Methoden eines Familienplanungsbüros organisiert hatte und danach ins Gefängnis musste, austauschen wollen. Schon kurz nach seiner Flucht aus dem schwerbewachten Hausarrest im ostchinesischen Dorf Dongshigu am 22. April wurden auf dem populären Mikroblogging-Dienst Weibo Nachrichten geblockt, die seinen Namen enthielten. Auch Beiträge, die die Worte "Blinder Mann" oder "A Bing" enthalten, werden mittlerweile aus dem Netz gefiltert. Die Zensoren sind wachsam. Einige Nutzer sind sogar dazu übergegangen, den medizinischen Terminus für Herzverfettung zu verwenden. Das chinesische Schriftzeichen dafür ähnelt dem für das Wort "blind".

Auch "UA898" taucht immer wieder auf bei Weibo. Die Nummer der täglichen Flugverbindung von Peking nach Washington. UA898, diesen Flug würde Chen wohl gerne nehmen, um aus seinem Heimatland zu fliehen, das ihn vier Jahre einsperrte, das ihn unter Hausarrest stellte - und das jetzt verzweifelt versucht, die durch Chens Flucht in die US-Botschaft entstandene Debatte wieder einzudämmen.

"Das ist im Moment ein Strohfeuer, aber die chinesische Regierung hat Angst, dass sich das ausbreitet", sagt China-Experte Eberhard Sandschneider, Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und Professor an der Freien Universität Berlin. Er selbst glaubt aber nicht daran. "Der Fall besitze in China "noch kein sonderlich hohes Mobilisierungspotential" auf Seiten der Regierungskritiker, sagt Sandschneider.

Offiziell wird in China über Chen nicht gesprochen. Zwar hat die Flucht in die amerikanische Botschaft auch Teile der chinesischen Öffentlichkeit elektrisiert. Doch in den amtlichen Verlautbarungen existiert Chen so gut wie nicht. Wenn überhaupt, wird vage über eine Bedrohung für die harmonische Gesellschaft gesprochen, die Parteichef Hu Jintao schon bei seinem Amtsantritt vor zehn Jahren versprochen hat.

Harmonie herrscht in der chinesischen Gesellschaft aber schon lange nicht mehr: "Wer sich über Missstände informieren will, der kann sich informieren", sagt Sandschneider. "Vor allem über das Internet." Das gehe trotz Überwachung. Allerdings wisse nur ein relativ kleiner Kreis, wie die Zensurmechanismen zu umgehen seien.

"Die Macht der Regierung entsteht durch unsere Angst"

Viele Menschen in China sind deshalb nicht oder nur schlecht darüber informiert, dass es momentan eine globale Debatte über Chinas Menschenrechtspolitik gibt, wie es sie seit der Verleihung des Friedensnobelpreises an Liu Xiaobo im Jahr 2010 nicht mehr gegeben hat. So soll es auch bleiben, findet Peking.

Offenbar hat die Regierung aus der Vergangenheit gelernt. Denn es gibt einen vergleichbaren Fall. Der Wissenschaftler Fang Lizhi war einer der Ideengeber der chinesischen Demokratiebewegung, floh nach der Niederschlagung der Studentenproteste 1989 in die US-Botschaft, wo er sich mit seiner Frau über ein Jahr aufhielt. Erst nach 13 Monaten ging er schließlich ins Exil in die Vereinigten Staaten. Einen ähnlich langwierigen Verlauf will China im aktuellen Fall unter allen Umständen vermeiden. Deshalb zeigte sich das Land schon während der Verhandlungen, die geführt wurden, als Chen noch in der Botschaft war, ungewöhnlich kooperationsbereit. Hu Jintao will keinen Streit mit den USA, soviel scheint klar.

Selbst die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua verzichtete darauf, Chen zu denunzieren, nannte ihn stattdessen schlicht "chinesischen Staatsbürger". Als "fast konziliant" beschreibt Eberhard Sandschneider den offiziellen Umgang Chinas mit Chen im Moment. Auf chinesischen Mikroblogs kursiert sogar eine angebliche Weisung von Parteichef Hu Jintao für den Fall Chen: "Herunterspielen, entschädigen, ausreisen lassen."

China-Experte Sandschneider kann sich vorstellen, dass diese Anweisung tatsächlich von Hu Jintao stammt. Mit seiner Flucht in die US-Botschaft kurz vor dem Strategiegipfel zwischen den USA und China habe sich Chen die maximale Öffentlichkeit gesichert, die er jetzt als Schutzmechanismus" und zur Durchsetzung seiner Interessen nutze. "China versucht jetzt in dieser schwierigen Lage, vor dem Ausland das Gesicht zu wahren."

Das Hauptinteresse Chens ist es wohl, in die USA ausreisen zu können. Und die Chancen darauf steigen, nachdem das chinesische Außenministerium Chen am Freitag darauf hinwies, dass er sich für ein Studium im Ausland bewerben könne: "Als chinesischer Bürger, der im Ausland studieren will, kann er durch die üblichen Kanäle bei den zuständigen Behörden gehen und die Formalitäten im Einklang mit dem Gesetz erfüllen, so wie alle anderen chinesischen Bürger auch", hieß es in einer Erklärung. China stimmte der US-Außenamtssprecherin, Victoria Nuland, zufolge außerdem zu, Chen ohne Verzögerung Reisedokumente zu geben. Offenbar verfügt Chen über eine Einladung einer New Yorker Universität.

Was passiert mit seiner Familie

Dass China es damit tatsächlich ernst meint, davon ist Eberhard Sandschneider überzeugt: "Ich glaube, dass Chen schon bald ein Studentenvisum für die USA bekommen wird und ausreisen darf", sagt er. Tatsächlich geht Peking offenbar davon aus, dass der Dissident im Exil dem Land weniger schaden kann, als in heimischen Gefängnissen, oder wenn er unter Hausarrest steht.

Doch der Fall Chen wäre mit der Ausreise des blinden Anwalts nicht erledigt: "Eine wichtige Frage bleibt", sagte Sandschneider. "Was passiert mit seiner Familie, wenn Chen ausreisen darf? Er wird sie wahrscheinlich nicht mitnehmen können." China könnte so versuchen, Chen unter Druck zu setzen, sollte er versuchen, von den USA aus gegen Peking zu protestieren.

Doch Chen Guangcheng kann sich sicher sein, dass seine Landsleute für ihn sind. Die CNN-Mitarbeitern Chi-Chi Zhang schrieb über den Mikroblogging-Dienst Twitter, sie habe einen Bürger gefragt, warum er Chen unterstütze. Sie bekam zur Antwort: "Die Macht der Regierung entsteht durch unsere Angst. Wir bekommen dagegen Macht, wenn wir unsere Stimme erheben."

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