China:Tod in der Tofu-Schule

Beim Erdbeben in China starben Tausende Kinder in maroden Gebäuden, die mit billigen Materialien gebaut worden waren - ein Besuch bei den verzweifelten Eltern.

Henrik Bork, China

Sie wäre lieber selbst tot, sagt sie. Er war doch ihr einziger Sohn. Elf Jahre alt. Erst eine Woche vor dem Erdbeben hatte er Geburtstag gefeiert, sagt sie. Und hält das Bild des Jungen hoch, in einem weißen Bilderrahmen. Sie trauert, aber sie ist auch wütend. "Die Korruption hat unsere Kinder umgebracht, nicht das Erdbeben", sagt Liu Yanhui.

Die "Fuxin Grundschule Nummer zwei" ist bei dem Erdbeben am 12. Mai eingestürzt. Alle anderen Gebäude ringsum blieben stehen. Nur die Schule klappte zusammen - "wie ein Kartenhaus", würde man in Deutschland wohl sagen. In China haben sie ein anderes Bild dafür. "Die Schule war eine Tofu-Konstruktion", sagt Liu Yanhui. Gebaut mit billigen Materialien, der Beton mit zu viel Sand gemischt, ohne ausreichende Stahlstreben, so wacklig wie ein Stück Tofu, wenn man es mit den Stäbchen anstößt.

Lan Guixin hieß der elfjährige Sohn der 36-jährigen Bäuerin Liu Yanhui. Seine vierte Klasse hatte gerade Mathematik-Unterricht, als um 14.28 Uhr an jenem Tag die Erde bebte. Die Schule brach "innerhalb von zehn Sekunden zusammen", wird die Zeitung Nanfang Zhoumo später einen Lehrer zitieren. Anständig gebaute Häuser wehren sich ein wenig länger, auch bei einem Beben der Stärke 8 auf der Richterskala. Sie schwanken, ächzen wertvolle Fluchtsekunden lang, bevor sie einstürzen.

Von Betonblock begraben

Nicht so eine "Tofu-Schule". Lan Guixin schaffte es fast bis zur Tür, doch dann wurde er von einem Betonblock begraben. Neben ihm viele seiner etwa 300 Mitschüler. 127 Kinderleichen sind bis jetzt geborgen, zwei Kinder werden noch vermisst. Es ist ein Muster, das sich überall im chinesischen Erdbebengebiet wiederholt. 6898 Schulen sind bei dem Beben zerstört worden, sagte Han Jin, ein Beamter des Erziehungsministeriums, in einem Interview mit der Volkszeitung.

Niemand, auch nicht Liu Yanhui und die anderen wütenden Eltern, leugnet die zerstörerische Gewalt der Natur. Doch sie fragen zu Recht, warum oft nur die Schulen eingestürzt sind, während die daneben stehenden Häuser noch stehen. Die Fuxin-Grundschule ist fast das einzige zerstörte Gebäude, das weit und breit zu sehen ist. Auch die zwei Flügel der "Juyuan Mittelschule" sind die einzigen Häuser in Juyuan, die komplett zusammengefallen sind. 240 Schüler starben darin. Auch in Xiang E stürzte die Schule ein, viele andere Häuser aber nicht. Unter den 439 Opfern in Xiang E sind 327 Schüler. Die Liste ist noch viel länger. Etwa zehntausend der etwa 85000 Opfer des Erdbebens sind Schüler oder Lehrer.

Viele Schulen brachen in Rekordzeit zusammen. Die Wufu-Grundschule in Mianzhu. Die Dongqi-Mittelschule in Hanwang. Die Hongbai-Schule in Shifang. Selbst neben der eingestürzten Mittelschule in Beichuan, nahe beim Epizentrum, blieben andere Gebäude stehen. "Die korrupten Kader haben Geld gestohlen, das für den Bau der Schule vorgesehen war", sagt Liu Yanhui.

Saftig grün steht der Reis in diesen Tagen in Liu Yanhuis Feld im Dorf Pusheng, zwei Kilometer von der Fuxin-Grundschule entfernt. Ihr Bauernhaus hat das Erdbeben mit wenigen Mauerrissen überstanden. Am Morgen des 12.Mai, kurz bevor sich der kleine Guixin auf sein Fahrrad schwang und zur Schule radelte, hat Liu Yanhui zum letzten Mal mit ihm gesprochen. "Ich sagte ihm, er solle mir seine schmutzige Wäsche geben, damit ich sie waschen kann", sagt sie. "Bye-bye Mama, ich bin auf dem Weg", hörte sie ihren Sohn dann noch rufen.

Tod in der Tofu-Schule

Inzwischen hat sie die Kleider verbrannt, wie das in China üblich ist, um sie dem Toten mit auf den Weg zu geben. Nur das Spielzeugauto mit Fernbedienung, das Guixin so liebte, hat sie behalten. Und den beim Beben verbeulten, in Plastik eingeschweißten Schülerausweis, den er um den Hals getragen hatte.

Wegen der Ein-Kind-Politik war Guixin das einzige Kind des Ehepaares. Aus Angst vor einer weiteren, verbotenen Schwangerschaft hatte sich die 36-jährige Liu Yanhui im Dezember sterilisieren lassen. Die Operation war teuer, sagt sie. Lan Xuqing, ihr Mann, war seit Februar als Wanderarbeiter unterwegs, um die Schulden zurückzahlen zu können. Der Sohn, dessen Schulausbildung die Bauern sich vom Mund abgespart hatten, war auch ihre einzige Versicherung gegen noch größere Armut im Alter.

Die Eltern zeigten sich unbeeindruckt

Viele Eltern von Einzelkindern sind unter den Überlebenden in Sichuan. Sie haben keine Angst, auf die Straße zu gehen, obwohl so etwas in China oft böse endet. Vor drei Wochen nahm Liu Yanhui das Foto, das sie am elften Geburtstag ihres Sohnes aufgenommen hatte. Darauf ist Guixin mit einer gelben Papierkrone auf dem Kopf zu sehen, die zuvor die Geburtstagstorte geziert hatte. Das Foto vor sich hertragend, schloss sich Liu einem Protestmarsch von mehr als hundert Eltern nach Chengdu an. Sie forderten eine Untersuchung der Ruine der "Tofu-Schule". Die Schuldigen sollen bestraft werden. "Wir fordern Gerechtigkeit", sagt Lan, der Vater. Auch an anderen Orten haben Eltern demonstriert.

Für Chinas Regierung, die im In- und Ausland sehr viel Lob für ihre relativ schnellen Rettungsmaßnahmen geerntet hat, sind die Elternproteste nicht ungefährlich. Vor einem harten Vorgehen gegen die Eltern schreckt sie so kurz vor den Olympischen Spielen in Peking zurück. Jiang Guohua, ein örtlicher Kader, fiel vor Liu Yanhui und den anderen Müttern auf die Knie, um sie von ihrem Marsch nach Chengdu abzuhalten.

Die Eltern zeigten sich unbeeindruckt. "Dieser Jiang war es, der in den ersten Stunden nach dem Erdbeben nach oben gemeldet hatte, hier seien nur 20, 30 Menschen gestorben", sagt Liu. Erst mal nach oben melden, dass man die Lage unter Kontrolle habe, ist für kommunistische Kader immer karrierefördernd. Viel zu lange habe es daher am 12. Mai gedauert, bis die Armee an der Fuxin-Grundschule ankam, sagt Liu.

Inzwischen hat die Pekinger Zentralregierung Chinas Medien angewiesen, nicht mehr über die Tofu-Schulen zu berichten. Das Wirtschaftsmagazin Caijing ignorierte den Befehl. Es enthüllte, dass der Bauplan für die Fuxin-Grundschule einfach von einer anderen Schule kopiert und dann ein zusätzliches, drittes Stockwerk obendrauf gesetzt worden war. Schon bei einem früheren, leichteren Erdbeben habe die Schule sehr stark geschwankt.

Korrupte Kader

Das Magazin fand auch heraus, dass die Zentrale in Peking Geld zur Renovierung unsicherer Schulen in Sichuan bewilligt hatte, diese Mittel aber oft von korrupten oder unfähigen Lokalkadern zweckentfremdet wurden. Problematische Baupläne und schlechte Bauqualität hätten diese Schulen "vom ersten Tag an gefährlich gemacht", schrieb Caijing.

Die Regierung hatte den Eltern der Fuxin-Grundschule für den gestrigen Freitag einen Untersuchungsbericht versprochen. Liu Yanhui wartete den ganzen Tag vor der Schule, traf schließlich gemeinsam mit den anderen Eltern den Vizebürgermeister der Kreisstadt Deyang. Man brauche noch mehr Zeit für die Untersuchung, sagte der. "Wir können warten", wird Liu hinterher sagen.

Hinter ihrem Haus, direkt neben dem leuchtend grünen Reisfeld, sind zwei braune, noch frische Erdhügel aufgeworfen. Unter dem linken ist Lan Guixin begraben. Rechts neben ihm, nur einen Meter weiter, ruht seine Cousine Nana. Auch sie starb in der Fuxin-Grundschule. Sie war zwölf Jahre alt. "Die beiden haben ihr Leben lang zusammen gespielt", sagt Liu Yanhui, "sie waren unzertrennlich".

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