China:Reich ohne Mitte

Viele gut verdienende Bürger, um die die Partei wirbt, merken, dass auch sie schnell zu Opfern des Systems werden können. Das könnte den Machthabern in Peking auf Dauer gefährlich werden.

Von Kai Strittmatter

Die Macht der Bilder. Chinas Kommunistische Partei weiß um sie. Die Inszenierung der Macht ist eine ihrer Obsessionen. Am 3. September wird sie ein Schauspiel vorführen, wie man es lange nicht mehr sah: eine gewaltige Militärparade im Herzen der Hauptstadt. Offiziell zur Feier von 70 Jahren Ende des Zweiten Weltkriegs, tatsächlich eine Demonstration mit dem Ziel, dem Volk und der Welt draußen Schauder der Ehrfurcht zu bescheren ob der Stärke dieses Landes, der Macht dieser Partei, der Führungskraft dieses Staats- und Parteichefs.

Die Partei feiert sich selbst, die Welt zollt Bewunderung, so war das geplant. Jetzt kommt alles anders. Über Jahrzehnte hinweg schien dieser Führung alles zu gelingen. Mit einem Mal klappt nichts mehr. Exporte stürzen ab, die Wirtschaft stottert, Reformen stecken fest, der Börse droht der freie Fall. Und die Bilder, die von diesem Sommer bleiben werden, das sind die Flammensäulen von Tianjin.

Gewaltige Explosionen keine zwei Autostunden entfernt vom Platz des Himmlischen Friedens, in einer Stadt, die das symbolisierte, worauf das neue China stolz war: Hi-Tech, Internationalität, Wachstum. Die Sonderwirtschaftszone Binhai, der Ort der Explosionen, war ein Symbol für Chinas Wirtschaftswunder. Über Nacht wurde er zum Symbol für alles, was schiefläuft im Einparteienstaat.

Mit dem Wunder ist es nach drei Jahrzehnten ungebremsten Wachstums vorbei. Das ist besonders schmerzlich für Xi Jinping, den Mann, der vor drei Jahren die Macht übernahm. Damals war Xi Jinping angetreten, das Vertrauen eines verunsicherten und zynisch gewordenen Volkes wiederzugewinnen. Er war angetreten, China in die Zukunft zu führen und den Beweis zu erbringen, dass es dazu die von der Partei verteufelten "westlichen Werte" nicht braucht, also keine Zivilgesellschaft, keine unabhängige Justiz, keine unabhängigen Medien - keinerlei Kraft außerhalb der Partei. Selbst wenn Kritiker klagten über Xis Feldzug gegen abweichende Meinungen, so staunten doch alle über die Kondition des Mannes in seinem Kampf gegen korrupte Funktionäre und Rivalen, über sein Geschick im innerparteilichen Machtkampf, über seine Selbstsicherheit. Die Propaganda strickte aus all dem einen neuen Führerkult: der starke, weise Mann, in dessen Hände das Volk beruhigt sein Schicksal legen kann.

Von all dem ist jetzt nicht viel zu sehen. Binnen Wochen erlebt die Partei einen gewaltigen Vertrauensverlust an mehreren Fronten. Dass die KP im Krisenmodus agiert, wenn die Wirtschaft stottert, ist verständlich. Dass ihr Handeln aber nun oft nach Konfusion und bisweilen nach Panik riecht, alarmiert viele. Eine Partei, der die Dinge entgleiten, das kannte man nicht. Tatsächlich setzten 80 Millionen Kleininvestoren so viel Vertrauen in die Allmacht dieser Partei, dass sie dem Aufruf ihrer Sprachrohre folgten und ihr Vermögen in die Börsen investierten, die nie viel mehr waren als ein Polit-Kasino. Der Absturz hat Millionen um ihr Erspartes gebracht.

Sie alle zählen zur neuen Mittelschicht, um die die KP buhlt. Die gut verdienenden, gebildeten Städter haben als natürliche Verbündete der Partei das Proletariat abgelöst. Die kommunistische Ideologie ist tot, der steigende Wohlstand hat sie schon vor Jahrzehnten als Legitimation der KP-Herrschaft ersetzt. Auch deshalb muss der Partei bang sein vor mageren Jahren: Da droht ein Bruch. Das bisherige Wirtschaftsmodell ist am Ende. China kommt nur voran, wenn es seine Wirtschaft umbaut, wenn es mehr auf Innovation setzt, auf Dienstleistung und Konsum. Xi Jinping hat solche Reformen schon 2013 versprochen - schreckte aber vor zentralen Schritten zurück, sowohl was die Staatsunternehmen angeht als auch die gigantische Verschuldung von Gemeinden und Städten.

Potenzial für Wachstum hat China noch viel - aber dazu bräuchte es den Mut, gegen Profiteure des alten Systems vorzugehen. Todesmut? Ein erstaunlicher Kommentar, den Staatsmedien soeben veröffentlichten, deutet eine Spaltung der Parteiführung an: Die Widerstände gegen Reformen, heißt es da, gingen "über jede Vorstellung hinaus". Die Anti-Reformkräfte in der Partei seien "störrisch, heftig, kompliziert und mysteriös". Xi Jinping ist auch der Gefangene seines Systems. Eines Systems, das sich als Meritokratie verklärt, das im Widerschein der Flammen von Tianjin aber seine schlimmsten Defekte offenbarte. Ein Gefahrgutlager inmitten der Stadt mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen Chinas, neben Wohngebieten, betrieben über Strohmänner unter anderem vom Sohn eines Polizeichefs, gedeckt durch politische Beziehungen: "Das war Mord durch Korruption", schrieb einer im Netz. Und durch Intransparenz, Fahrlässigkeit und Inkompetenz - alles Baufehler eines Systems, das sich unabhängiger Aufsicht verweigert. Überall in China schütteln Bürger fassungslos den Kopf. "Wenn sie die unglaubliche Energie, die sie dafür aufbringen, hinterher Informationen zu vertuschen und Leute zu verhaften, nur dazu aufbrächten, im Vorfeld die Bürger zu schützen!", schrieb einer.

Wieder ist es die Mittelschicht, die mit einem Mal feststellt, dass sie nicht so privilegiert ist, wie sie dachte, dass auch sie schnell zum Opfer werden kann. Ja, die Partei hat ihre Rezepte: Sie wird materielle Verluste großzügig ersetzen, Sündenböcke finden und vor Gericht stellen und sie wird die toten Feuerwehrleute so sehr als Helden feiern, dass keiner auf die Idee kommt, in ihnen die Opfer zu sehen, die sie sind. Sie wird überhaupt jedes tiefere Nachdenken über die Katastrophe verbieten - und sie so dem Vergessen anheim geben wie viele andere vor ihr.

Die Militärparade am 3. September wird die nächste Gelegenheit sein, die Aufmerksamkeit abzulenken. Der von der Partei geschürte Nationalismus ist längst das zweite Standbein ihrer Legitimität. Eine seiner Thesen: Die "westlichen Werte", für die die USA und Europa werben, sind nur ein Trick, um China zu schwächen und seinen Aufstieg zu sabotieren. Gut möglich, dass viele der jetzt Empörten tatsächlich bald wieder vergessen. Gut möglich aber auch, dass immer mehr zu dem Schluss kommen, dass es das System der KP ist, das der Zukunft Chinas im Wege steht.

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