China-Besuch:Bittersüße Welt

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Ein Arbeiter bei der Firma Siemens in Shenzhen. (Foto: dpa)

In der Stadt Shenzhen lernt Kanzlerin Merkel Chancen und Risiken der Digitalisierung kennen.

Von Stefan Braun, Shenzhen

Macht euch keine Sorgen, nie-mand wird hier übersehen und keiner wird alleine gelassen. Shenzhen, die prosperierende Sonderwirtschaftszone im Süden Chinas, hat sich das auf die Fahnen ge-schrieben. Kein schlechter Werbespruch für eine Millionenstadt. Und die meisten Bewohner finden es großartig.

Und Angela Merkel? Die deutsche Kanzlerin auf China-Kurzreise wird diese Ge-schichte mit größtem Interesse verfolgen. So wie sie alles aufsaugt, was sie in China zu sehen bekommt. Das geschieht hier allerdings nicht, weil die Stadt, in der Deng Xiaoping vor vierzig Jahren den wirtschaftlichen Aufbruch initiierte, besonders sozial eingestellt wäre. Hier geht es um Videokameras und ein perfektes System der Überwachung.

Shenzhen gilt als erste Millionenstadt weltweit, in der so viele Kameras installiert wurden, dass eine quasi lückenlose Beobachtung möglich ist. Die Stadt rühmt sich, die hohe Verbrechensrate auf ein historisch niedriges Maß gesenkt zu haben. Klingt gut, ist aber auch gespenstisch.

Die Kanzlerin ist genau dort angekommen, wo China am beeindruckendsten und bedenklichsten ist: beim digitalen Fortschritt mit all seinen Konsequenzen. "Das Tempo ist Wahnsinn", sagt die Merkel. "Das muss man einfach gesehen haben, um zu wissen, was da los ist."

Dazu passt, dass Merkel in Shenzhen nicht nur ein Siemens-Werk für Medizintechnik besucht, in dem unter anderem MRT-Scanner und Geräte zur Durchleuchtung von Blutgefäßen hergestellt werden. Auf ihrem Terminkalender steht auch die Visite eines 2015 gegründeten Start Ups mit dem Namen iCarbonX. Doch was nach Garage, Jeans und Nerds klingt, ist binnen dreier Jahre zu einem Milliardengeschäft geworden.

Das Unternehmen verknüpft seine Forschungen zur Künstlichen Intelligenz mit Gesundheitsdaten von Millionen Menschen, um - wie es wirbt - zur Gesundheitsförderung und gesundheitlichen Vorsorge beizutragen. Ausgewertet werden unter anderem der Herzschlag, die Schlafmuster, die Blutwerte sowie die DNA von Millionen freiwilligen Nutzern. Dazu kooperiert das Unternehmen unter anderem mit Fitness-Studios, Wellness-Spa's und Kliniken. Und wer bei all dem mit datenschutzrechtlichen Bedenken ankommt, erntet hier Kopfschütteln. Was in Europa vielen Menschen Angst macht, ist hier scheinbar selbstverständlich geworden. Daten, die das Leben der Menschen verbessern helfen - da mag sich im großen Strom des Volkes offenbar kaum einer mehr Gedanken machen.

Merkel schaut interessiert, als ihr in den Räumen von iCarbonX gezeigt wird, was da alles gemacht wird. Zu sehen sind kleine edle Büros, in denen Menschen mit Mundschutz erste Untersuchungen machen; ein großer Show-Room mit Video-Demonstration, dazu ein Fitness-Raum, in dem Tests gemacht werden können. Und dazu lässt sich auf einem kleinen Tisch ablesen, was man als Kunde so brauchen würde. Mit Smartphones, Armbändern und Armbanduhren, die längst nicht mehr nur Uhren sind, sondern alle möglichen Körperdaten sammeln.

So unspektakulär die Präsentation aus-sieht, so verschlossen wirkt das Gesicht der deutschen Regierungschefin. Einfach mal neugierig und begeistert sein - das passt nicht so recht in diese neue, bittersüße Welt der großen Möglichkeiten. Als Merkel vor Jahren in Sichuan einen riesigen Gemüse- und Obstmarkt besuchte, leuchteten ihre Augen. So bunt und vielfältig waren Gerüche und Farben.

Hier aber, in diesem kühl-teuren Büro des chinesischen Unternehmens, läuten bei Merkel eher die Alarmglocken. Zu gut weiß sie, welche Debatten sich in Deutschland mit solchen Firmen und solchen Ge-schäftsfeldern verbinden.

Dass Merkel nach Shenzhen gekommen ist, hat sie selber entschieden. Sie wollte erfahren, wie es in dieser so genannten "fast economic zone" zugeht. Wollte einen Einblick bekommen, "was da läuft in China - und das ist viel", wie die Kanzlerin ganz lapidar hinzufügt.

Es ist eine Mischung aus Faszination und Entsetzen, mit der sie beobachtet, wie die Chinesen sich auf die totale Datennutzung und Überwachung einlassen. "Als sei es eine Show von Günther Jauch", entfährt es ihr auf dieser Reise. Einer Show, bei der jeder beweisen will, dass er der noch bessere Schuldner, der noch treuere Bürger, der noch effizientere Mitarbeiter ist.

Am Ende ihres Besuchs in Shenzhen gibt Merkel ein kleines Resümee. Interessant sei das alles. "Man sieht, dass wir uns ganz strategisch mit der Digitalisierung befassen müssen". Natürlich gebe es nach wie vor deutsche Unternehmen, die auch in diesem Bereich führend seien. Das aber müsse man sich "jeden Tag neu erarbeiten". Und was heißt das mit Blick auf China? "Dass wir die strategische Zusammenarbeit auf ganz neue Füße stellen müssen." Sie sagt das eher leise, weil müde. Trotzdem ist das für ihre Verhältnisse mehr als ein kleiner Weckruf. Nicht um alles zu kopieren, sondern um sich alles bewusst zu machen.

George Orwell? 1984? Das, so sagt es Merkel, wäre im Vergleich dazu ein "leichtes Lüftchen" gewesen.

© SZ vom 26.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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