Chile:Eine Wahl ohne Wahlkampf

Viele Bürger sind von der Politik gefrustet - wie sehr, wird sich am Sonntag zeigen. Wahlforscher gehen von einer sehr niedrigen Beteiligung aus.

Von Boris Herrmann, Santiago de Chile

Chile: Der konservative Unternehmer und Milliardär Sebastián Piñera, der Chile bereits von 2010 bis 2014 regierte, geht als Favorit ins Rennen.

Der konservative Unternehmer und Milliardär Sebastián Piñera, der Chile bereits von 2010 bis 2014 regierte, geht als Favorit ins Rennen.

(Foto: Martin Bernetti/AFP)

In der Fußgängerzone der chilenischen Hauptstadt werben die Restaurants für ihre Fischsuppen, die Elektroläden für kreditfinanzierte Flachbildfernseher und die Wahrsagerinnen versuchen, Passanten in ihre Zelte mit den Tarot-Karten zu locken. Seltsamerweise wirbt fast niemand für Sebastián Piñera, Alejandro Guillier oder Beatriz Sánchez. Wenig deutet darauf hin, dass hier am Sonntag eine Präsidentschaftswahl stattfindet. Keine Plakate, keine Partei-Stände, keine Gratis-Kugelschreiber. Wer etwas vom Wahlkampf mitbekommen will, muss schon sehr gut suchen.

In einer ruhigen Seitenstraße in Santiagos Stadtteil Providencia sollte man eigentlich fündig werden. Dort befindet sich das Büro von Marta Lagos. Die Leiterin der Meinungsforschungsinstitute Mori und Latinobarómetro ist eine der führenden Wahlforscherinnen Chiles. Seit 1987 arbeitet sie auf diesem Gebiet. Aber in diesen Tagen hat sie erstaunlich viel Freizeit. Für Wahlforscher gilt gerade so etwas wie ein temporäres Berufsverbot. Laut dem neuen Wahlgesetz ist es untersagt, in den Wochen vor der Abstimmung Umfrageergebnisse zu veröffentlichen. Die letzte nationale Erhebung, sagt Lagos, sei über einen Monat alt.

Fast überall, wo mehr oder weniger demokratisch gewählt wird, gehört das Genörgel über langweilige oder nervige Kampagnen, über schlechte oder manipulative Umfragen zum Grundrauschen. In Chile kann man derzeit das Ergebnis des Versuches bestaunen, es besser zu machen - indem man alles reguliert. Um die oft undurchsichtige bis illegale Wahlkampffinanzierung früherer Jahre zu bekämpfen, sind diesmal zum Beispiel alle Parteispenden mit einem riesigen bürokratischen Aufwand verbunden. "Sie sind übers Ziel hinausgeschossen", sagt Marta Lagos, "diesmal gibt es keine Korruption, aber es gibt auch keine Kampagnen."

Die rund 14 Millionen wahlberechtigten Chilenen stehen also vor einer Wahl ohne nennenswerten Wahlkampf. Und es zeigt sich, dass auch das nicht unbedingt demokratiefördernd ist. Worin sich die politischen Programme der insgesamt acht Präsidentschaftskandidaten unterscheiden, wissen die wenigsten. Die vorherrschende Stimmung im Volk ist: Desinteresse. Es wird mit einer historisch niedrigen Wahlbeteiligung gerechnet. Lagos prognostiziert rund 45 Prozent.

Als großer Favorit gilt der Milliardär Sebastian Piñera, 67, der von 2010 bis 2014 schon einmal Staatspräsident war. Seine Amtszeit war von zahlreichen Klüngelvorwürfen überschattet. Um den Schaden zu begrenzen, verkaufte der liberal-konservative (viele sagen auch: rechtskonservative) Piñera seine Anteile an der Fluggesellschaft LAN Chile und am Fernsehsender Chilevisión. Trotzdem ging er als der unbeliebteste Präsident seit dem Ende der Pinochet-Diktatur 1990 in die Geschichte ein. Bis vor kurzem hätte ihm kaum einer ein Comeback zugetraut, am allerwenigsten seine politischen Gegner. Das ist wohl einer der Hauptgründe, weshalb er jetzt doch wieder gute Chancen hat.

Meinungsforscherin Marta Lagos

"Wenn Piñera gewinnt, ist er nicht der Sieger der Mehrheit, sondern der größten Minderheit."

Die bisherige Regierungskoalition von Präsidentin Michelle Bachelet aus Sozialisten, Sozialdemokraten, Kommunisten und Christdemokraten steht sich mit internen Streitereien selbst im Weg. Erstmals seit 1990 hat es das Mitte-Links-Lager nicht geschafft, den rechten Kräften geschlossen gegenüberzutreten. Die sogenannte Concertación schickt diesmal gleich fünf konkurrierende Kandidaten ins Rennen, von denen nur zwei eine Chance haben, es überhaupt in eine mögliche Stichwahl gegen Piñera zu schaffen: der Journalist Alejandro Guillier, 64, und die Journalistin Beatriz Sánchez, 46. Keiner der Kandidaten löst unter den Chilenen Begeisterung aus. Auch deshalb werden am Sonntag wohl die meisten zu Hause bleiben. Marta Lagos fürchtet, dass im Extremfall die Stimmen von 20 Prozent aller Wahlberechtigten reichen könnten, um Präsident zu werden. Sie sagt: "Wenn Piñera gewinnt, ist er nicht der Sieger der Mehrheit, sondern der größten Minderheit."

Zur allgemeinen Politikverdrossenheit hat auch Bachelet beigetragen. Ihre erste Amtszeit beendete sie 2010 mit Popularitätswerten um die 80 Prozent. Nach ihrer Rückkehr in den Präsidentenpalast hat sie die hohen Erwartungen enttäuscht - zumindest aus Sicht der meisten Chilenen. Im Ausland genießt Bachelet weiterhin großes Ansehen. Dort wird sie für den Eifer gefeiert, mit dem sie das schmale Land am Ende der Welt gegen alle Widerstände modernisierte und von den Überbleibseln der Pinochet-Ära befreite. Sie setzte eine Steuerreform, eine Gesundheitsreform und die Ansätze einer Bildungsreform durch, stärkte das Streikrecht, lockerte das Abtreibungsverbot und führte die Homo-Ehe ein. Bei vielen Chilenen bleibt aber vor allem das Bild von einer zerrütteten und skandal-erschütterten Koalition hängen, die in ihrem Reformfieber vergaß, sich um die Wirtschaft zu kümmern. Das jahrelang stabile Wachstum ist zuletzt deutlich eingebrochen. Das hilft Piñera.

Ähnlich wie Donald Trump in den USA tritt er als Geschäftsmann auf, der verspricht, den Staat wie eines seiner erfolgreichen Unternehmen zu führen. In der öffentlichen Debatte geht es vor allem um die Frage, ob er im ersten oder zweiten Wahlgang gewinnt. Meinungsforscherin Marta Lagos sagt hingegen: "Da es keine zuverlässigen Umfragen gibt, wissen wir eigentlich nur, dass wir gar nichts wissen." Vielleicht wird diese Wahl spannender als die meisten ahnen.

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