Chemiewaffen:Gefährliche Verwandlung

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Die Untersuchungen im englischen Salisbury, wo der mutmaßliche Ex-Spion Sergej Skripal und seine Tochter vergiftet worden sein sollen, dauern an. (Foto: Henry Nicholls/Reuters)

Wie harmlose Substanzen zu einem Kampfstoff gemixt werden können - und sich damit internationale Regeln umgehen lassen.

Von Paul-Anton Krüger

Der Artikel in der Zeitung Kuranty trug den Titel "Inversion". Ziemlich passend. Denn der Text beschrieb einen chemischen Prozess, bei dem sich die Eigenschaften von Stoffen in ihr Gegenteil verkehren, genauer, wie sich zwei an sich harmlose Ausgangsstoffe in ein tödliches Nervengift verwandeln, wenn sie zusammengefügt werden. Das Stück erschien am 10. Oktober 1991, Autor war Wil Mirsajanow, ein promovierter Chemiker. Er enthüllte in der in Moskau erscheinenden Zeitung erstmals das geheime Programm der damals noch bestehenden Sowjetunion für eine neue Generation binärer chemischer Kampfstoffe. Den Namen erwähnte er nicht. Heute kennt man ihn: Nowitschok, was übersetzt etwa "Neuling" oder "neuer Typ" bedeutet.

Mutmaßlich seit den Siebzigerjahren arbeitete die Sowjetunion daran, nach deren Kollaps machte Russland weiter. Ziel war es, dem amerikanischen Kampfstoff VX etwas entgegenzusetzen. Die Stoffe sollten die Aufspür-, Schutz- und Abwehrmaßnahmen der Nato-Armeen unterlaufen - und später auch die Regeln der Chemiewaffenkonvention. Das, so schrieb Mirsajanow später, habe ihn maßgeblich dazu bewogen, an die Öffentlichkeit zu gehen.

In der Umgebung von Produktionsstätten wurden Grenzwerte deutlich überschritten

Es war die Zeit des Umbruchs, die staatlichen Strukturen der Sowjetunion lösten sich auf. Die Amerikaner wollten damals verhindern, dass Know-how und gefährliche Substanzen aus den sowjetischen Waffenlabors an dunkle Regime verkauft werden, an Nordkorea oder Iran. Vor allem ging es um Atomwaffen. Aber Russen und Amerikaner hatten 1990 auch vereinbart, ihre Chemiewaffen aufzugeben und der Chemiewaffenkonvention beizutreten.

Diese Absichtserklärung stand im direkten Gegensatz zu dem, was Mirsajanow aus seiner Arbeit am staatlichen wissenschaftlichen Forschungsinstitut für organische Chemie und Technologie wusste - ein Tarnname für ein Chemiewaffenlabor. Er sollte sicherstellen, dass niemand in der Umgebung der Chemiewaffen-Einrichtungen Spuren der verwendeten Stoffe nachweisen konnte. Bei seinen Messungen stellte er fest, dass die Grenzwerte toxischer Substanzen deutlich überschritten wurden - auch beim Nowitschok-Programm.

Die Kampfstoffe basieren auf Grundstoffen, die in der Industrie weit verbreitet sind, etwa bei der Herstellung von Insektengift für die Landwirtschaft. Sie verhindern die Leitung von Impulsen in den Nervenbahnen und führen zu schwersten Lähmungserscheinungen, zu Herz- und Atemstillstand. Manche der Nowitschok-Kampfstoffe sind laut Mirsajanow bis zu acht Mal giftiger als VX - davon wirken fünf Milligramm oral aufgenommen in der Hälfte aller Fälle tödlich. Bei Überlebenden hinterließ Nowitschok schwere bleibende Schäden. Bekannt ist mindestens ein Unfall in einem der sowjetischen Labore.

Mirsajanow konnte später in die USA auswandern. Er glaubt, dass nur der russische Staat das Gift herstellen kann. Denkbar sei höchstens der Fall eines rogue scientist - eines Kollegen, der sein Wissen verkauft hat. Allerdings sind die Prozesse der Synthese, der "Inversion", bis heute anders als bei den meisten Kampfstoffen nicht öffentlich bekannt - wohl aber den Geheimdiensten.

© SZ vom 14.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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