Chancenlos in Deutschland:Geraubte Zukunft

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Die steigende Kinderarmut ist der Kanzlerin und den Politikern einige matte Sätze wert. Mehr aber auch nicht.

Heidrun Graupner

Über die schlimmen Zahlen wird wieder kaum jemand reden und niemand wird handeln. Das war immer so, gleichgültig wer die Regierung gestellt hat. Kinderarmut ist kein Thema, das aufregt, schon gar nicht Politiker.

Von klein auf benachteiligt: Armut schändet, sie raubt den Kindern die Zukunft, klagen Ärzte, die sich um sie kümmern (Foto: Foto: dpa)

Jede neue, deprimierende Rekordstatistik legen die Politiker nach leichtem Bedauern in die Schublade, um sich dann offenbar wichtigeren Themen zuzuwenden, zum Beispiel dem Missbrauch bei Hartz IV.

Den Zahlen, die der Deutsche Kinderschutzbund vorgelegt hat, wird es nicht anders ergehen: Seit 2004, seit dem Start von Hartz IV, hat sich die Zahl der armen Kinder und Jugendlichen verdoppelt, 2,5 Millionen leben auf Sozialhilfeniveau.

Doch niemand schreit angesichts dieser bedrohlichen Entwicklung auf, niemand schlägt erregt Alarm - es sind ja Ferien in Berlin, und die Politiker sind der Meinung, sie hätten sie sich redlich verdient.

Nichts haben sie sich verdient.

Seit drei Jahren warnen die Wohlfahrtsverbände vor den schlimmen Folgen von Hartz IV für die Familien und ihre Kinder, doch die Verbände wurden für ihre Prognosen nur gescholten oder verlacht.

Sicher, die große Koalition hat angekündigt, sie wolle das Thema Kinderarmut in den Mittelpunkt stellen. Dort sucht man es allerdings seit November vergebens, nur ein paar matte Sätze wurden ihm gewidmet, auch von der Bundeskanzlerin.

"Es ist ungerecht, dass so viele Familien in Deutschland auf Sozialhilfe angewiesen sind", hat Angela Merkel gesagt, mehr nicht.

Kinderarmut ist aber nicht nur ungerecht. Sie vernichtet einen Staat, sie raubt ihm seine Zukunft.

Welcher Staat kann es sich leisten, dass 2,5 Millionen Kinder als benachteiligte Randgruppe aufwachsen? In manchen Städten sind 30 oder 35 Prozent aller Kinder arm.

Die große Koalition wird nicht müde, vor schwindenden Geburtenzahlen und der bevorstehenden demographischen Katastrophe zu warnen. Sie macht eine Politik für Kinder, sie gibt für sie viel Geld aus - aber nicht für alle Kinder.

Die Regierung schaut nicht nach Großbritannien oder nach Skandinavien, wo Kinderarmut durch einen intelligenten Mix von politischen Maßnahmen beträchtlich heruntergeschraubt wurde, in Schweden auf 2,4 Prozent.

Sie schaut auch nicht in Studien nach, die über die Folgen von Kinderarmut erzählen.

Allein am Gesundheitszustand der Kinder lässt sich der Grad von Armut exakt messen. Je weniger Geld eine Familie hat, desto häufiger leiden die Kinder an Asthma oder Neurodermitis, sind zu dick, sie hören, sehen und sprechen schlechter oder nässen ein.

13,8 Prozent aller armen Kinder sind in ihrer geistigen Entwicklung beeinträchtigt, bei den reichen sind es nur 0,8 Prozent. Allein diese Zahlen müssten aufrütteln.

Diese Kinder werden aber nicht zum Arzt gebracht, sie fehlen im Kindergarten, sie versagen und brechen die Schule ab, sie haben kaum Aussicht auf einen Ausbildungsplatz.

Die Kinder resignieren mit ihren Eltern, deren Armut vererbt sich auf sie, nicht nur psychisch, auch physisch, Armut schändet, sie raubt den Kindern die Zukunft, klagen Ärzte, die sich um sie kümmern.

Politik für arme Kinder aber entsteht nach wie vor aus dem Moment heraus, hektisch und ineffektiv.

Wenn in Hauptschulen wie an der Berliner Rütlischule ein Ausnahmezustand von Gewalt herrscht, wenn ein vernachlässigtes, misshandeltes Kind tot gefunden wird - eines von mehr als zehntausend vernachlässigten Kindern -, dann werden aufgeregt Konsequenzen verlangt.

Umfassende und langfristige Ansätze fehlen, die vereinzelten Hilfen und Netzwerke, die derzeit entstehen, genügen noch nicht.

Arme Familien brauchen finanzielle Grundsicherung, die sie davor schützt, endgültig in Obdachlosigkeit und Elend abzurutschen. Sie brauchen menschliche Begleitung, will man den Kindern langfristig wirksam helfen, ob von Sozialarbeitern oder von Ärzten.

Sozialer Sprengstoff von morgen

Doch Ärzte dürfen bisher nicht an Wohnungstüren klingeln und sich nach den Kindern erkundigen. Und mit Hartz IV wurde nur der Sozialdetektiv geschaffen, der bei den armen Familien nachschaut, ob sie betrügen - nicht aber der Sozialhelfer.

Die Ansprechpartner in den Sozialämtern jedoch, mit denen Familien früher schlimme Probleme besprechen konnten, wurden mit Hartz IV abgeschafft.

Jedes arme Kind müsste in den Kindergarten geschickt werden - als Pflicht -, es müsste eine Ganztagsschule besuchen, wo es zusätzliche Hilfe bekommt, es müsste in Sportvereinen mitmachen und dort nicht nur auf der Reservebank sitzen.

Es ist falsch, dass über Integration nur in der Ausländerpolitik diskutiert wird. Es geht um Integration von Schwachen generell.

Kluge Integrationspolitik muss ressortübergreifend allen Kindern helfen, gleichgültig ob ausländischen oder deutschen. Wenn es in diesem immer noch reichen Land 2,5 Millionen arme Kinder gibt, dann hat die Politik versagt, sie hat das Grundgesetz mit seinem Sozialstaatsgebot missachtet und die UN-Charta für die Rechte der Kinder.

Und sollte sich nichts ändern, dann besteht die Gefahr, dass sich diese Kinder ohne Perspektiven später einfach das nehmen, was ihnen die Gesellschaft vorenthalten hat.

Die Kinderarmut von heute ist der soziale Sprengstoff von morgen.

© SZ vom 28.7.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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