CDU-Parteitag:Der Maskenbildner seiner selbst

Jürgen Rüttgers steht im Mittelpunkt des CDU-Parteitages.Der NRW-Ministerpräsident ist so etwas wie die Kombination aus Angela Merkel und Edmund Stoiber - er kann einmal so und einmal anders.

Heribert Prantl

Zu berichten ist von einem Wunder. Es handelt von einem stillen Erfinder, der den roten Faden für eine schwarze Partei entdeckt hat. Es handelt von einem Tüftler, der genau ausgetüftelt hat, wie man beliebt wird und das dann auch schafft. Es handelt von einem ehrgeizigen Eigenbrötler, der die Leute begeistert.

CDU-Parteitag: Sein Antrag bestimmt die Debatte vor dem Dresdner Parteitag

Sein Antrag bestimmt die Debatte vor dem Dresdner Parteitag

(Foto: Foto: dpa)

Es ist dies die Geschichte von einem spröden Mann, der lange Zeit nur als ein blasser politischer Versicherungsvertreter galt und sich nun zu einem Volkshelden mausert. Zu berichten ist von der Verwandlung des Sankt Bürokratius, Verfasser zweier Kommentarwerke über das Abwasserabgaben- und das Landeswassergesetz, in den Heiligen Sankt Martin von Düsseldorf.

Der echte Sankt Martin, Martin von Tours, war, bevor er Bischof, Schutzpatron und einer der beliebtesten Heiligen des Abendlandes wurde, ein römischer Offizier, der an einem eisigen Winterabend hoch zu Roß die Wachen inspizierte, als ein in Lumpen gehüllter Greis auf ihn zutrat und, vor Kälte zitternd, um ein Almosen bat.

Martin hatte weder Geld noch Essen bei sich; aber er nahm seinen weiten Mantel und schnitt ihn mit dem Schwert in zwei Teile, eine Hälfte warf er dem Bettler zu. In der alten Heiligenlegende heißt es: "Die Welt lachte, aber der Himmel bewunderte diese Tat."

Der Neid ist gelb

Über Jürgen Rüttgers feixen und höhnen seine politischen Gegner innerhalb und außerhalb der CDU: Er habe ja schließlich nicht seinen eigenen Mantel geteilt, sondern nur den der anderen. Sein Vorschlag, den alten Arbeitslosen länger Geld zu zahlen, ginge ja auf Kosten der jungen Arbeitslosen, die noch nicht so lang in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt haben.

So sagt es der Bundespräsident, so ergibt es sich sogar aus dem ursprünglichen Konzept von Rüttgers selbst; er hatte es seinem Landesvorstand schon zugestellt und erst nach Gesprächen mit CDU-Generalsekretär Pofalla geändert und verunklart. Und so kritisieren das auch die Sozialdemokraten, die mit Ingrimm betrachten, wie ihnen Rüttgers die Butter vom Brot nimmt.

Sie haben schon recht - aber diese Schwächung des Versicherungsprinzips hat auch ein Franz Müntefering, der das Unbehagen seiner Klientel spürte, vor einiger Zeit noch selber propagiert. Doch den Leuten auf der Straße in Köln oder Hamm, die sich zu ihrem Ministerpräsidenten umdrehen und ihm "hart bleiben" und "weiter so" nachrufen, ist es egal, was das Versicherungsprinzip sagt. Sie wollen spüren, dass endlich wieder einer ihre Ängste ernst nimmt.

"Aber der Himmel bewunderte diese Tat", heißt es in der Legende über das Mantelwunder. Der Himmel des Politikers ist die Zustimmung der Wähler. Rüttgers genießt achtzig Prozent Zustimmung. So etwas gebiert Neid, und der Neid ist bekanntlich gelb - und auch das erklärt den FDP-nahen Antrag des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Günter Oettinger, der auf dem heute beginnenden CDU-Parteitag in Dresden wieder einmal den Kündigungsschutz lockern lassen will.

Gegen eine solche Politik, die dem Sozialstaat die Schuld an der Arbeitslosigkeit gibt, hat sich Rüttgers mit eigentlich eher geringem Aufwand positioniert: Indem er sich gegen die "Lebenslüge" wandte, dass die Steuersenkungspolitik Arbeitsplätze schafft. Und indem er schon im Sommer 2004 Hartz IV kritisierte - und seitdem immer wieder ein wenig nachlegt. Er gilt nun als der, der die Dogmen der Steuer- und Arbeitsmarktpolitik in Frage stellt.

Der Maskenbildner seiner selbst

In seinen politischen Büchern - Rüttgers ist fleißig, fünf hat er geschrieben, das letzte von 2005 heißt "Worum es geht" - findet sich davon freilich wenig. Und sein Frühwerk über die Parteien als "Dinosaurier der Demokratie", Untertitel "Wege aus der Parteienkrise und Politikverdrossenheit", das 1993 erschienen ist, liest sich eher wie ein wirtschaftsliberales Manifest.

Ruettgers, dpa

Jürgen Rüttgers in jungen Jahren

(Foto: Foto: dpa)

Jürgen Rüttgers ist keiner wie Norbert Blüm, Heiner Geißler oder einst Hans Katzer, ihm geht nicht das Herz über, wenn er von Gerechtigkeit spricht; er kann nicht, wie Blüm das getan hat, ein ganzes Buch damit füllen. Er spricht davon nüchtern, wie ein Wissenschaftler, und beschreibt sich selbst als einen "Praktiker mit der Fähigkeit zur theoretischen Durchdringung".

Jürgen Rüttgers ist kein Herz-Jesu-Marxist, er sagt nicht "hier stehe ich und kann nichts anders". Er ist aber auch nicht einer, der dicke Zigarren raucht (die Pfeife, die lange Jahre sein Kennzeichen war, hat er weggelegt) oder sich auf dem Golfplatz über die kleinen Leute erhebt; Sohn kleiner Leute ist er selber und hat im Elektrogeschäft der Eltern Sicherungen und Schallplatten verkauft.

Wer also ist Jürgen Rüttgers? Er kann einmal so und einmal anders. Er sagt deshalb vorsichtshalber, dass es ihm Schmerzen macht, in eine Schublade gesteckt zu werden. Momentan regiert er mit der FDP; man traut ihm zu, dass er es mit den Grünen genauso könnte. Nicht dass das ansteht - aber vielleicht könnte er es irgendwann sogar mit der Linkspartei. In den Umfragen seines Landes gilt er nun als drittbekanntester "Sozialdemokrat" nach Müntefering und Steinbrück.

Das ist kein Witz, sondern Ernst - und ein Menetekel für die Sozialdemokratie, die offenbar noch gar nicht begriffen hat, was da passiert: Jürgen Rüttgers besetzt die vakante Rolle des Arbeiterapostels, er stellt sich auf die Schultern von Johannes Rau.

Er weiß schon, warum er das macht: Rüttgers ist nicht nur Jurist, sondern auch studierter Historiker, bei ihm zu Hause steht noch eine Kiste mit Materialien für die Doktorarbeit über das "Papsttum als supranationale Ordnungsmacht im Lichte der päpstlichen Ehepolitik im 13. und 14. Jahrhundert".

So einer weiß, was die translatio imperii ist - eine Legitimationsidee, mit der im Mittelalter die Herrschaft von einem Reich auf das andere übergeleitet wurde. Durch die translatio imperii bestand das Römische Reich im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation weiter fort. Und das ist auch das strategische Prinzip des Jürgen Rüttgers: Das vertraute Nordrhein-Westfalen des Johannes Rau lebt mit ihm und in ihm weiter. Das stimmt natürlich nicht. Aber Jürgen Rüttgers tut bislang erfolgreich so, als ob es so wäre. So will er für die CDU auf Dauer ein Land erben, das strukturell noch immer ein SPD-Land ist.

Es ist bezeichnend für den Zustand der SPD, dass ihr als Gegenstrategie nichts einfällt als die Hoffnung darauf, dass "der Rüttgers das nicht durchhält", dass er also Schwierigkeiten mit seiner Bundespartei kriegt. Die Hoffnung ist trügerisch: Wenn Rüttgers solche Schwierigkeiten kriegte, würde er sie in Nordrhein-Westfalen als Orden zu tragen wissen - und den Satz, er habe nicht der Partei, sondern den Menschen zu dienen, hätte er schnell auf den Lippen.

Er ist ein politischer Fuchs: seine Staatskanzlei hat er so geschickt in eine Kampagnen-Zentrale verwandelt, dass dem politischen Gegner und der Öffentlichkeit gar keine Zeit blieb, dies zur Affäre zu machen - wie es geschehen war, als der umständlichere Vorgänger Steinbrück etwas Ähnliches versucht hatte.

Tantiemen einer Strategie

Die Umfragewerte für Rüttgers sind die Tantiemen einer klugen Strategie. Das Zaudern, das so lange als typisch für Rüttgers galt, ist vorbei. Das Selbstbewusstsein, von dem Rüttgers noch nie wenig hatte, ist noch einmal gewachsen.

Wer in NRW Ministerpräsident ist, wer dort nach 39 Jahren die Herrschaft der SPD beendet hat, wer einen Landesverband mit 180.000 Mitgliedern führt, welcher auf dem CDU-Parteitag ein Drittel der Mitglieder stellt, der ist ein Schwergewicht in der Bundes-CDU; und seitdem er in NRW Landesvorsitzender ist, seit 1999, hat er aus einem zerstrittenen Haufen eine, wie er sagt, "wieder sprechfähige" Landespartei gemacht, die mit Rüttgers ihren Stolz wiedergefunden hat.

Das erfüllt Rüttgers, der aus einer gut katholischen Elektromeisterfamilie in Köln-Lindenthal stammt, der Pfadfinder war, zur Jungen Union ging, in Köln Geschichte und Jura studiert hat, der ein kreativer Verwaltungsbeamter wurde und in der Politik eine glatte Karriere machte, mit unbändigem Behagen.

Rüttgers verbirgt sein Ich Selbst die Parteifreunde, die lange mit ihm gearbeitet haben, die seine Karriere befördert haben, die ihn seit einer politischen Ewigkeit kennen, also seitdem er 1989 parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag wurde, wissen wenig über Rüttgers zu erzählen. "Ich kenne den Mann nicht", sagt ein CDU-Spitzenpolitiker, der ihn wirklich kennen müsste, ihn auch schätzt, der seine Karriere begleitet und befördert hat.

Rüttgers verbirgt sein Ich. Die, die ihn kennen und doch nicht kennen, loben seine freundliche, feine Art, seine angenehmen Manieren, sie konstatieren einen brennenden Ehrgeiz, den er bisher auf allen seinen beruflichen Stationen gezeigt habe, sie berichten von seinem intellektuellen Selbstbewusstsein. Er ist ein technokratischer, gewissenhafter Handwerker, handelt selten spontan. Und wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, bleibt er beharrlich dabei. Smart ist er nicht, aber Frauen mögen seinen strahlenden Blick.

Kein Exzessivjurist

Er ist Jurist wie Edmund Stoiber, aber kein Exzessivjurist wie dieser; Rüttgers denkt nicht in Paragrafen. "Ich denke in Strukturen", sagt er selbst, "Jura hat mir beigebracht, an Sachverhalte systematisch heranzugehen, sie auch zu zerlegen." Derzeit geht er systematisch an den "Sachverhalt" Nordrhein-Westfalen heran; derzeit zerlegt er die SPD. Der Mann, der mit 43 Jahren "Zukunftsminister" bei Helmut Kohl wurde, der damals in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als "eine der wenigen politischen Begabungen" galt, "über welche die CDU verfügt", zeigt jetzt, was er kann.

Jahrelang kamen seine journalistischen Porträtisten gleichwohl zum Ergebnis, er sei ein "Mann ohne Eigenschaften", zu glatt, nicht zu fassen. Aber das stimmt nicht, es stimmt jedenfalls nicht mehr. Rüttgers ist ein Mann mit vielen Eigenschaften, mit vielen Gesichtern; man weiß nur nicht, welches das authentische Gesicht ist. Sylvia Lührmann, die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Düsseldorfer Landtag, hat das so beschrieben: "Er redet wie Blüm, er intrigiert wie Kohl, und er regiert wie Westerwelle".

Regieren wie Westerwelle: damit gemeint ist eine Landespolitik, die dazu führt, dass die Kindergartenbeiträge steigen; die ihre Zusagen nicht einhält, dass die Schulbücher für Kinder von Hartz-IV-Empfängern vom Land bezahlt werden; und die in der Schulpolitik der FDP das Sagen lässt - Auflösung der Schulbezirksgrenzen, was dazu führt, dass sich die deutschen Eltern für ihre Kinder die Grund- und Hauptschulen aussuchen können, in denen am wenigsten ausländische Kinder sind.

Der Maskenbildner seiner selbst

CDU-Parteitag: Jürgen Rüttgers mit seinem NRW-Generalsekretär Hendrik Wüst

Jürgen Rüttgers mit seinem NRW-Generalsekretär Hendrik Wüst

(Foto: Foto: dpa)

Aber mit solcher Kritik dringen die Grünen so wenig durch wie die SPD: Rüttgers hat als seinen Familien- und Integrationsminister Armin Laschet installiert, der eine für einen CDU-Mann ganz ungewöhnlich liberale Ausländerpolitik vertritt und bundesweit Aufmerksamkeit findet. Laschet sei auch wieder nur so ein Mäntelchen, das sich Rüttgers umhängt, heißt es bei der NRW-Opposition. Aber es funktioniert.

Probleme mit dem Menschlichen

Nur eines funktioniert nicht so recht - das Menschliche. Rüttgers will gar kein neuer Sankt Martin sein. Er will ein Mensch sein, ein richtig menschlicher Mensch, kein Politikfunktionär. "Rüttgers. Der Mensch", hat er im Landtagswahlkampf des Jahres 2000 plakatieren lassen, als ob er erst klar machen müsste, dass er aus Fleisch und Blut ist.

Er will so reden wie die Leute, er will populär sein, und das hat ihn im Jahr 2000 zu einem der fatalsten Fehler verleitet, die er bislang gemacht hat: Der Mann, der von sich sagt, "platte Formeln beleidigen meinen Intellekt", hat offenbar gemeint, "Kinder statt Inder" sei eine leutselig-populäre Formulierung.

Rüttgers will ein Politiker mit Kopf und Herz sein, so beliebt, wie Johannes Rau, sein Vorvorgänger, es gewesen ist. Er kann zwar keine Anekdoten erzählen, und es gibt auch keine über ihn. Aber er will ein Johannes Rau sein. Also sagt er von sich, er sei gesellig; seine Geselligkeit bestünde aber im Zuhören-Können. Und das Ministerpräsidentenamt sei deswegen so schön, weil man mit so vielen Menschen zusammenkomme.

Ein Pils, ein Alt, ein Kölsch

Es ist, als höre man den Fuchs von den Trauben reden; aber Rüttgers ist ein besonderer Fuchs: er erwischt die Trauben. Jedenfalls ist er Ministerpräsident geworden, und jetzt will er Schutzpatron werden von Land und Leuten, er will einer sein, von dem die Leute sagen, dass sie mit ihm ein Bier trinken möchten.

Und um für jeden Geschmack etwas zu bieten, hat er im letzten Landtagswahlkampf versprochen, "ein Pils, ein Alt und ein Kölsch" zu trinken, wenn er gewinnt. Er hat gewonnen und getrunken. Er weiß, dass er kein Kumpeltyp ist; er weiß, dass aus dem Menschen Rüttgers ein Bruder Johannes nie werden wird. Er ist nicht offenherzig - also muss er seine Geselligkeitsdefizite mit einer sozialen Rhetorik, einer klugen Strategie und einer souveränen Politik ausgleichen, die niemand im Land daran zweifeln lässt, dass das schöne, von Johannes Rau erfundene Motto "Wir in Nordrhein-Westfalen" nun seines ist.

Den Menschen Rüttgers mag man sich als eine Kombination aus Edmund Stoiber und Angela Merkel vorstellen. Wären die beiden dreißig Jahre älter und hätten miteinander einen Sohn, der in die Politik gegangen ist - er könnte so wie Jürgen Rüttgers sein; er vereint die guten und schlechten Gaben von beiden. Aber er arbeitet noch an sich - wie ein Maskenbildner seiner selbst. Nach dem Parteitag wird man Neues von ihm hören. Dann wird er sich die Gesundheitspolitik vornehmen.

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