Caritas-Präsident über Armut:"Wunde dieser Gesellschaft"

Es gibt Länder, in denen Kinder verhungern - doch solche Vergleiche findet Peter Neher zynisch. Der Präsident der Deutschen Caritas über den Kampf gegen Armut in der Bundesrepublik.

M. Drobinski

Peter Neher leitet seit fünf Jahren die Caritas. Der 53-jährige gebürtige Allgäuer hatte zuvor als Gemeindepfarrer und Krankenhausseelsorger gearbeitet.

Caritas-Präsident über Armut: "Das große Manko ist und bleibt der bedrückende Anstieg der Kinderarmut in Deutschland", sagt Caritas-Präsident Neher

"Das große Manko ist und bleibt der bedrückende Anstieg der Kinderarmut in Deutschland", sagt Caritas-Präsident Neher

(Foto: Foto: dpa)

SZ: Im Wahlkampf, der wohl nach dem Jahreswechsel losgehen wird, dürfte über Steuersenkungen, Konsumgutscheine, Subventionen gestritten werden. Das Soziale dürfte nur insofern eine Rolle spielen, dass der Staat sich hier holt, was er anderswo ausgibt.

Neher: Das hoffe ich nicht. Wir müssen den Parteien deutlich machen, dass Sozialpolitik kein Nebenprodukt der Wirtschaftspolitik ist.

SZ: Wie sind Sie mit der großen Koalition zufrieden, die 2005 auch antrat, um wichtige Sozialreformen durchzusetzen?

Neher: Dafür, dass da zwei sehr unterschiedliche Parteien in ein Bündnis praktisch gezwungen wurden, ist erfreulich viel passiert. Gerade in der Pflegereform sind wir wichtige Schritte vorangekommen, so können Demenzkranke nun besser versorgt werden. Die begonnene Rentenreform ist einer der mutigsten Schritte der Koalition: Ich halte die Anhebung des Renteneintrittsalters für unumgänglich, so wie es richtig war, den demographischen Faktor wieder einzuführen.

SZ: Damit machen Sie sich bei den Rentnern keine Freunde. Ist die Caritas da nicht ziemlich unsozial?

Neher: Nein - die Lebenserwartung steigt, 65-Jährige sind oft noch voller Energie und wollen etwas schaffen. Allerdings setzt das voraus, dass Menschen, die über 60 sind, noch eine gute Arbeit haben oder eine solche finden können, sonst führt die Erhöhung des Rentenalters zu einer kalten Rentenkürzung. Wenn der bayerische Ministerpräsident stolz darauf ist, dass er niemanden in sein Kabinett beruft, der älter als 60 ist, finde ich das ein schlechtes Zeichen.

SZ: Als Hartz IV eingeführt wurde, haben Wohlfahrtsverbände heftig protestiert. Jetzt ist offenbar der Rückgang der Arbeitslosigkeit auch dem Druck zu verdanken, den die Sozialreformen ausgeübt haben. Müssen Sie sich heute für die Kritik von damals entschuldigen?

Neher: Der Caritasverband war schon seit langem dafür, die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zusammenzulegen. Den Regelsatz von gegenwärtig 351 Euro im Monat aber halten wir für zu niedrig, da er allein schon die Preissteigerungen der vergangenen Jahre nicht berücksichtigt. Bei den Regelsätzen ist es absurd, zu erwarten, dass ALG-II-Empfänger Geld für eine neue Waschmaschine zurücklegen können.

Und wir sehen, dass es für Menschen mit geringer Qualifikation noch zu wenig Brücken in den regulären Arbeitsmarkt gibt. Fünf Jahre, nachdem die Reform in Kraft getreten ist, fehlen immer noch Fallmanager, ist der bürokratische Aufwand extrem hoch, gibt es eine Flut von Klagen.

Auf der zweiten Seite lesen Sie, was Neher zur Familienpolitik der großen Koalition zu sagen hat - und was der Caritas-Präsident für eine bessere Investition hält als Straßenbau.

"Wunde dieser Gesellschaft"

SZ: Welche Änderungen fordern Sie?

Caritas-Präsident über Armut: Peter Neher leitet seit fünf Jahren die Deutsche Caritas.

Peter Neher leitet seit fünf Jahren die Deutsche Caritas.

(Foto: Foto: ddp (Archiv))

Neher: Mehr Möglichkeiten für Arbeitslosengeld-II-Empfänger, Geld für außerplanmäßigen Bedarf zu bekommen: wenn ein Kind chronisch krank wird, wenn hohe Kosten für den Nahverkehr anfallen, wenn Nachhilfe notwendig ist. Sie sollten von den Zuzahlungen bei den Medikamenten ausgenommen werden. Und der Umgang mit den Menschen sollte sich ändern. Viele Arbeitsagenturen verstehen sich noch als hoheitliches Amt und nicht als Dienstleister. Unser Kampagnenthema für 2009 heißt: "Soziale Manieren für eine bessere Gesellschaft". In der Krise drohen die sozialen Manieren zu verlottern.

SZ: Einige katholische Bischöfe haben die Familienpolitik der Koalition heftig kritisiert, Bischof Mixa hat gesagt, die Politik degradiere mit dem Ausbau der Kinderkrippen Frauen zu "Gebärmaschinen". Können Sie sich dem anschließen?

Neher: Den Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren halten wir für einen wichtigen Schritt. Wir dürfen jedoch nicht nur auf die Zahl der Krippenplätze schauen. Wir müssen auch auf die Qualität achten, und wir müssen insgesamt die Familienförderung verbessern. Das Elterngeld ist ein wichtiger Schritt, es benachteiligt aber Eltern mit geringem Einkommen, die jetzt nur ein Jahr statt zwei Jahre Unterstützung bekommen.

SZ: Musste eine konservative Ministerin mit sieben Kindern kommen, bevor in der katholischen Kirche die Kinderkrippe den Ruch des Fürchterlichen verlor?

Neher: Das kann schon sein. Sie hat es jedenfalls geschafft, dass Familienpolitik in der großen Koalition ein wichtiges Thema ist und nicht "Gedöns" wie anfangs unter Gerhard Schröder. Das große Manko aber ist und bleibt der bedrückende Anstieg der Kinderarmut in Deutschland. Mehr als zwei Millionen Kinder unter 14 Jahren sind arm in Deutschland, sie leben in Haushalten, die nicht für sich selbst sorgen können. Der Kinderregelsatz, der den Eltern für ihre Kinder zusteht, deckt - wie die Berechnungen der Caritas zeigen - nicht den Bedarf der Kinder. Das ist eine Wunde dieser Gesellschaft.

Armut in Deutschland ist relativ, sagen Ihre Kritiker.

Neher: Es gibt Länder, in denen Kinder verhungern. Aber solche Vergleiche finde ich zynisch. Arme Kinder in Deutschland spüren ihre Armut täglich. Wenn sie nicht ins Kino oder ins Schwimmbad gehen können, wenn sie keine Bücher haben und keinen Musikkurs besuchen, wenn sie sich schon als Zehnjährige sicher sind: "Ich werde sowieso Hartz IV."

Die Armut in Deutschland verfestigt sich und kapselt sich ab. Wer arm ist, kommt immer schwerer aus dieser Armut heraus. Inzwischen gibt es Viertel, wo Kinder außer ihren Lehrern keinen mehr kennen, der eine reguläre Arbeit hat. Sie wissen nicht, was es heißt, regelmäßig aufzustehen, zu frühstücken, zur Arbeit zu gehen, dort auch mal Frust durchzustehen. Nirgendwo in Europa entscheidet die soziale Herkunft so sehr über die Bildung wie in Deutschland.

SZ: Sozialwissenschaftler wie der Berliner Professor Heinz Bude gehen davon aus, dass es kaum noch möglich sein wird, diese Ausgeschlossenen zurück in die Mitte der Gesellschaft zu holen.

Neher: Das ist schwierig, gerade bei Migranten, wo Probleme mit der Sprache und der Kultur dazu kommen. Aber das ist unsere große soziale Herausforderung, diesen Ausgeschlossenen die Teilhabe am Leben in diesem Land zu ermöglichen. Die Caritas wird Kinderarmut zu einem ihrer großen politischen Themen im kommenden Jahr machen. Die Existenz der Kinder muss gesichert werden, und eine gute Ausbildung muss sie befähigen, mit ihrem Leben zurecht zu kommen.

SZ: Wird da nicht zunehmend der Ruf nach besserer Bildung zum Ersatz für eine gute Sozialpolitik?

Neher: Ja, ich erlebe, dass die Bildungsdebatte dazu missbraucht werden kann, Verteilungsfragen in den Hintergrund zu drängen. Dann heißt es: Die sollen erst einmal eine anständige Ausbildung machen, dann brauchen sie keine Hilfe mehr. Das übersieht aber, wie sehr Bildungsfragen Verteilungsfragen sind. Diese Kinder brauchen eine Grundsicherung, bis hin zu Gutscheinen für den Musikunterricht und den Sportverein.

Gerade in Problemvierteln brauchen wir Krippen, Kindergärten und Schulen, in denen Kinder Deutsch lernen, in denen sie lernen, fair und ohne Gewalt miteinander umzugehen, in denen sie Kultur und Werten begegnen. Deshalb sollten die Kindergärten mittelfristig beitragsfrei sein und zum Einstieg mindestens das erste Kindergartenjahr: Nur gut 80 Prozent der Dreijährigen besuchen eine Kita - die 20 Prozent, die fehlen, brauchen diese Förderung oft ganz besonders.

SZ: Was Sie vorschlagen, ist nun nicht ganz billig.

Neher: Es ist eine Investition in die Zukunft des Landes mit einer besseren Rendite als der Straßenbau.

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