Bush-Regierung vor 9/11:Auf beiden Augen blind

Schon lange vor 9/11 lieferte der Geheimdienst ausführliche Informationen über die Anschlagspläne von al-Qaida. Und US-Präsident George W. Bush unternahm: nichts. Ein US-Journalist hat nun die Monate vor dem 11. September 2001 nachgezeichnet.

Matthias Kohlmaier

Etwa 3000 Menschen starben, noch mehr Kinder verloren mindestens ein Elternteil. Die terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 sind bis heute - elf Jahre danach - beispiellos. Aber hätten sich die Attacken auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Arlington verhindern lassen? Hätte die Regierung von George W. Bush die Gefahr eines bevorstehenden Angriffs durch al-Qaida früher erkennen müssen?

BUSH PRAYS DURING NAVAL ACADEMY COMMENCEMENT

Ignorierte sämtliche Warnsignale vor dem 11. September 2001: Ex-US-Präsident George W. Bush (Archivbild aus dem Mai 2001).

(Foto: REUTERS)

Beide Fragen beantwortet auch der Investigativ-Journalist Kurt Eichenwald in einem Artikel für die New York Times nicht endgültig. Eines stellt er jedoch klar: Die Hinweise auf einen kurz bevorstehenden Anschlag waren schon im Frühsommer 2001 so deutlich, die Indizienkette so lang, dass die Bush-Administration in irgendeiner Form hätte reagieren müssen. Die Regierung jedoch ignorierte das vom US-Geheimdienst CIA zusammengestellte umfangreiche Informationsmaterial zu den Plänen von al-Qaida beinahe vollständig - oder tat es schlicht als "Getöse" ab, wie Eichenwald schreibt.

"Die Taubheit vor dem Sturm" heißt der Artikel, in dem Eichenwald die Vorkommnisse aus dem Jahr 2001 schildert. Was er da in chronologischer Reihenfolge aufführt, lässt den Leser teilweise tatsächlich am Urteils- und Empfindungsvermögen der Bush-Regierung zweifeln. Manchmal gar verzweifeln.

Genau ein Geheimdienst-Memo ("presidential daily brief") aus dem Vorfeld von 9/11 hat die US-Regierung der zuständigen Untersuchungskommission im April 2004 zur Verfügung gestellt. Der Titel: "Bin Laden entschlossen, in den USA zuzuschlagen." Am 6. August 2001, etwas mehr als fünf Wochen bevor zwei Passagierflugzeuge die Türme des World Trade Centers rammten, war die Regierung also gewarnt.

Nach den Anschlägen jedoch erklärten mehrere Regierungsmitglieder, das Memo habe nur eine allgemeine Erklärung zur Historie von al-Qaida beinhaltet, von einem konkreten Zeitpunkt und Ort eines möglichen Anschlags sei nicht die Rede gewesen. Eichenwald gibt diesen Argumenten teilweise recht, verweist aber noch im gleichen Absatz auf die eigentliche Farce: "Das Dokument von 6. August ist bei Weitem nicht so schockierend wie die Memos, die ihm bereits vorangegangen waren."

Chronologie anhand von Memos

Schon seit Frühling 2001 gingen Warnungen bezüglich eines bevorstehenden Angriffs durch al-Qaida bei Präsident Bush ein. Folgend eine kurze Zusammenstellung der chronologischen Ereignisse, wie sie Eichenwald recherchiert und seinen Angaben zufolge teilweise durch Gespräche mit beteiligten Regierungsmitgliedern und Geheimdienstmitarbeitern verifiziert hat:

[] Am 1. Mai sprach die CIA gegenüber Regierungsmitarbeitern von einer Gruppe, die sich bereits in den USA befinde und eine terroristische Operation plane.

[] Am 22. Juni ging ein Memo ein, demzufolge Al-Qaida-Attacken bevorstünden, obgleich der Geheimdienst den zeitlichen Rahmen der vermuteten Anschläge als flexibel bezeichnete. Im Pentagon wurde jedoch die Theorie vertreten, wonach Saddam Hussein die deutlich größere Bedrohung für die Sicherheit der USA sei und Bin Laden nur Anschlagspläne vortäusche, um die Aufmerksamkeit der US-Regierung vom irakischen Diktator abzulenken.

[] Als Reaktion auf die Fehleinschätzung im Pentagon hieß es im Geheimdienst-Memo an den Präsidenten von 29. Juni: "Die Vereinigten Staaten sind nicht Ziel einer Desinformations-Kampagne von Osama bin Laden." Agenten befürchteten laut dem Memo, der geplante Anschlag könnte "dramatische Konsequenzen" haben.

[] Am 1. Juli wurde der Präsident laut Eichenwald informiert, dass die Operation erst später stattfinde, jedoch "schon bald passieren wird".

[] Die zunehmende Verzweiflung in den Geheimdienstorganisationen ob der Nichtbeachtung ihrer Warnungen trat dann am 9. Juli zutage. Beim Treffen einer Anti-Terror-Einheit riet ein Abteilungseiter den Angestellten, um Versetzung zu bitten. Seine Begründung: Dann wären sie wenigstens nicht für einen baldigen Angriff verantwortlich, wie bei der Besprechung Anwesende gegenüber Eichenwald erklärten.

[] Am 24. Juli schließlich wurde Bush darüber unterrichtet, dass der Anschlag wohl um einige Monate verschoben worden sei. Ernst nahm der damalige US-Präsident die Warnungen jedoch nicht, wie ein Geheimdienstmitarbeiter im persönlichen Gespräch mit Eichenwald sagte. Bush verlangte demnach - statt sich genauer mit einer möglichen Terrorattacke zu beschäftigen - eine allgemeinere Analyse der Al-Qaida-Historie. Das Ergebnis seines Wunsches: der eingangs erwähnte Bericht vom 6. August.

Es wäre nun leicht, Kurt Eichenwald und seinem Artikel ein hauptsächlich kommerzielles Interesse vorzuwerfen. Erscheint doch pünktlich zum Jahrestag Eichenwalds Buch zum Thema 9/11 mit dem Titel: 500 Days: Secrets and Lies in the Terror Wars. Doch trotz aller Indizien, die der Journalist zusammengetragen hat, versucht er nicht, mit steilen Thesen zu glänzen, sondern bleibt bei seinen recherchierten Fakten.

Verbale Ausfälle gegenüber der Bush-Administration aus dem Jahr 2001 bleiben aus - und im letzten Absatz seines Textes stellt der Autor gar selbst die Frage, ob 9/11 hätte verhindert werden können, falls Bush früher und entschlossener reagiert hätte. Eichenwalds Antwort: "Wir werden es niemals erfahren. Und das ist vermutlich die quälendste Wahrheit überhaupt."

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