Bundeswehreinsatz im Inneren:Mit vollem Potenzial in den Anti-Terrorkampf

Künftig können die Streitkräfte auch im Inland gegen Angriffe von Terroristen vorgehen. Bisher war das nur der Polizei vorbehalten. Die Trennung von Polizei und Militär hat das Bundeverfassungsgericht aufgehoben - und gleichzeitig eine bisher gültige Grenze überschritten.

Wolfgang Janisch

Die Sache schien längst ausgestanden zu sein, damals, im Februar 2006. Das Bundesverfassungsgericht - genauer gesagt: dessen Erster Senat - erklärte Teile des Luftsicherheitsgesetzes für grundgesetzwidrig. Die Garantie der Menschenwürde verbiete den Abschuss entführter Flugzeuge voller unschuldiger Passagiere, selbst wenn damit Tausende gerettet werden könnten. Das Menschenleben ist keine Rechengröße: Dies festzustellen, war eine richterliche Großtat in Zeiten sich überschlagender Bedrohungsphantasien.

´BildÂ": Elite-Einheit KSK war in Kundus beteiligt

Bevor die Bundeswehr ausrücken darf, muss das gesamte Bundeskabinett entscheiden; nicht einmal im Eilfall darf der Verteidigungsminister das alleine tun.

(Foto: dpa)

Zugleich hatte das Gericht die Grenzen inländischer Bundeswehreinsätze bei "Unglücksfällen" formuliert, wozu auch Terroranschläge zählen. Die Streitkräfte sollten im Rahmen der Katastrophenhilfe als eine Art Ersatzpolizei herangezogen werden dürfen - aber eben nur mit den Instrumenten der Polizei. "Militärische Kampfmittel, beispielsweise die Bordwaffen eines Kampfflugzeugs, (...) dürfen dagegen nicht zum Einsatz gebracht werden."

Diesen Satz hat das Plenum des Bundesverfassungsgerichts - jenes äußerst selten urteilende Gremium aus allen 16 Richtern - nun ins Gegenteil verkehrt: Es erlaubt erstmals den Gebrauch militärischer Waffen im Inland.

Das Gericht formuliert zwar enge Grenzen für Einsätze der Streitkräfte; nur in "ungewöhnlichen Ausnahmesituationen katastrophischen Ausmaßes" dürfen beispielsweise Kampfjets aufsteigen. Zudem bleibt es bei dem Abschussverbot von 2006. Jenseits davon dürfen Luftwaffe, Marine und Heer - wenn nötig - ihr gesamtes Arsenal in den Anti-Terrorkampf einbringen.

Es ist, als ließe das Gericht den Geist aus der Flasche, um ihn sogleich wieder fesseln zu wollen. Der 21 Seiten lange Beschluss folgt dem "Wenn schon, denn schon"-Prinzip: Wenn die Bundeswehr im Inland eingesetzt wird, dann mit ihrem vollen Potenzial. Bevor sie aber überhaupt ausrücken darf, muss das gesamte Bundeskabinett entscheiden; nicht einmal im Eilfall darf der Verteidigungsminister entscheiden.

Außerdem nimmt das Gericht allerlei Missbrauchsmöglichkeiten vorweg, um sie zu untersagen: Allein ein akuter Personalmangel bei der Polizei rechtfertigt keinen Soldateneinsatz, und eine permanente Luftabwehr gegen potenzielle Terrorflieger lässt sich damit ebenfalls nicht einrichten.

Sicherheitslücke in der Terrorabwehr

Und weil die Bundeswehr 2007 beim G-8-Gipfel in Heiligendamm im Einsatz war, erinnert das Gericht vorsichtshalber daran, dass Großdemonstrationen "keinen besonders schweren Unglücksfall im Sinne des Artikels 35 Grundgesetz" darstellen, der einen Streitkräfteeinsatz rechtfertigen könnte.

Dass es überhaupt zu dieser Abkehr von einer noch jungen Rechtsprechung des Gerichts kommen konnte, geht auf eine lange Zeit vergessene Klage Bayerns und Hessens gegen das Luftsicherheitsgesetz zurück. Wie ein Untoter erhob sich dieses Verfahren Jahre nach dem Urteil von 2006.

Die Länder hatten ihre Klagen zunächst ruhen lassen, solange sie hoffen konnten, die große Koalition werde den Bundeswehreinsatz im Inland qua Grundgesetzänderung ausweiten. Als sich die Aussichten zerschlugen, reanimierten sie das Verfahren vor dem zuständigen Zweiten Senat unter Vorsitz von Andreas Voßkuhle - in offener politischer Absicht: Sie spekulierten darauf, eine Schlappe in Karlsruhe werde die Sicherheitslücke in der Terrorabwehr offenbaren.

"Dann ist hier der verfassungsändernde Gesetzgeber gefordert", sagte in der Anhörung im Februar 2010 Bayerns Innenminister Joachim Herrmann - in Erwartung seiner Niederlage. Schon damals deutete der Senat freilich an, er werde die Frage des Waffengebrauchs womöglich anders sehen als der Erste Senat. So kam es: Das für Streitfragen zuständige Plenum des Gerichts wurde angerufen.

Nun hat Minister Herrmann seine Verfassungsänderungb also doch noch bekommen, frei Haus aus Karlsruhe. Eine Grundgesetzänderung, für die Karlsruhe nicht zuständig war, kritisiert der "Dissenter" Reinhard Gaier: Das wäre Sache der Politik gewesen, schreibt er in einem 15 Seiten langen Votum; manch einer wird von der Vehemenz des Textes aus der Feder des bedächtigen und stets freundlichen Richters überrascht sein.

Das dienstälteste Mitglied des Ersten Senats erteilt seinen Kollegen Nachhilfe in deutscher Geschichte. "Das Grundgesetz ist auch eine Absage an den deutschen Militarismus, der Ursache für die unvorstellbaren Schrecken und das millionenfache Sterben in zwei Weltkriegen war."

Was nützt gegen zum Tode entschlossene Terroristen?

Im Zuge der "Wiederbewaffnung" 1956 - die Erinnerung an den Machtmissbrauch der Nazis war noch frisch - wurden der Bundeswehr jegliche Befugnisse im Inland vorenthalten, Notstand hin oder her. Erst mit Erlass der Notstandsverfassung von 1968 fanden die Vorschriften zum Bundeswehreinsatz gegen bewaffnete Aufständische und zum Katastrophenschutz Eingang ins Grundgesetz.

Die Notstandesgesetze waren seinerzeit freilich heftig umkämpft. Ein Umstand, mit dem Gaier das Argument der Gerichtsmehrheit kontert, aus den Gesetzesmaterialien lasse sich keine eindeutige Tendenz des damaligen Gesetzgebers zum Waffeneinsatz ziehen. "Das Plenum lässt völlig außer Acht, dass zur Zeit der Notstandsgesetzgebung eine weitergehende Zulassung des Einsatzes militärisch bewaffneter Einheiten der Streitkräfte im Inneren politisch nicht durchsetzbar gewesen wäre", schreibt der Richter.

Was aber hat den Zweiten Senat bewogen, den vom Ersten Senat gerade erst eingedämmten Waffeneinsatz in Frage zu stellen und die Sache ins Plenum zu ziehen? Wo doch für den Schutz der Bevölkerung "wenig bis nichts" (Gaier) erreicht werden kann: Entführte Flugzeuge dürfen nach wie vor nicht abgeschossen werden, es sei denn, sie wären allein mit Terroristen besetzt.

Abdrängen, Warnschüsse - was nützt das gegen zum Tode entschlossene Terroristen? Und im Zweiten Senat war Gertrude Lübbe-Wolff als "Berichterstatterin" zuständig, eine bellizistischer Neigungen gänzlich unverdächtige Richterin.

Aber vielleicht lässt sich die allmähliche Ausdehnung der Bundeswehrbefugnisse beim Inlandseinsatz auch als eine Geschichte über die Macht der Bilder erzählen. Als in den 60er-Jahren über die Notstandsverfassung diskutiert wurde, da hatten die Menschen die "Große Flut" von Hamburg vor Augen.

Am 17. Februar 1962 brachen die Deiche, 315 Menschen ertranken, und der Hamburger Innensenator Helmut Schmidt holte eigenmächtig die Bundeswehr zu Hilfe; im Grundgesetz stand davon damals noch nichts. Fast 40 Jahre später war es das Bild der in die New Yorker Zwillingstürme rasenden Flugzeuge, das die Vorstellung vom soldatischen Katastropheneinsatz veränderte: Fortan dachte niemand mehr an Hubschrauberstaffeln zur Evakuierung überfluteter Stadtteile, sondern an Alarmrotten gegen fanatische Selbstmordattentäter. So etwas beschäftigt die Phantasie.

Lübbe-Wolff fragte zum Beispiel in der Anhörung im Februar 2010: Wenn ein entführter Panzer auf ein Chemiewerk zurolle - bestehe da nicht eine Schutzlücke, wenn der Bundeswehr die Hände gebunden seien?

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