Bundesversammlung:Wie damals - bei Weizsäcker

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Eine Präsidentenkür unter umgekehrtem Vorzeichen: 1984 verzichtete die SPD, jetzt tut das die Union.

Von HERIBERT PRANTL

Der Bundespräsident ist nicht die Schaufensterpuppe der deutschen Demokratie. Er ist nicht der schwarz-rot-goldene Grüß- und Gnadenonkel. Er ist kein politischer Kastrat; er muss sich keinen Knoten in die Zunge machen. Er ist ein Staatsnotar, aber nicht nur; er ist mehr, viel mehr. Der Bundespräsident ist der Verteidiger der sozialen und rechtsstaatlichen Republik. Das war selten in der bundesdeutschen Geschichte so notwendig wie heute.

In einer politischen Weltlage, die als unübersichtlich zu bezeichnen sehr untertrieben wäre, wird nun ein erfahrener Chefdiplomat zum Bundespräsidenten gewählt werden - als gemeinsamer Kandidat von SPD, CDU und CSU. Es gibt in der deutschen Politik keinen anderen, der eine vergleichbare Erfahrung im internationalen politischen Krisenmanagement hätte. Dass er, der SPD-Minister, in einer globalen Krisensituation der Kandidat der großen Koalition geworden ist - es ist wie eine List der Geschichte.

Die Kür Steinmeiers ist ein Triumph für SPD-Chef Sigmar Gabriel; sie ist eine Niederlage für die CDU-Chefin Angela Merkel. Daran ist nichts zu deuteln. Aber das sind taktische, das sind parteitaktische Bewertungen. Ausschlaggebend ist etwas anderes: Die Nominierung Steinmeiers durch die Parteien der großen Koalition ist eine Demonstration der Gemeinsamkeit der Demokraten; sie ist ein Sieg der Staatsräson. Das ist ein Faktum, auch wenn dieser Sieg aus der Personalnot der Union heraus geboren ist.

Die Suche nach dem nächsten Bundespräsidenten war in der Geschichte der Republik selten die Suche nach dem Besten und Klügsten im Land. Das war schon in den frühen Jahren der Bundesrepublik so. Als Heinrich Lübke 1959 nach Theodor Heuss zum zweiten Bundespräsidenten gewählt wurde, wusste der Kandidat Lübke selbst, dass er nur dritte Wahl war, er aber in das Machtkalkül des Kanzlers Konrad Adenauer am besten passte. Neben dem SPD-Kandidaten Carlo Schmid, dem damaligen Bundestagsvizepräsidenten, erschien den Zeitgenossen der Landwirtschaftsminister Heinrich Lübke als ein "dunkler Erdsatellit neben einem Fixstern". Das sah damals nicht nur der Vorwärts so, die Parteizeitung der SPD. Der Staatsrechtler Carlo Schmid war der funkelnde Polit-Star der jungen Republik, der Fein- und Schöngeist der Sozialdemokraten; er war einer der gelehrten Väter des Grundgesetzes, der mit gewaltiger Bildung und der Freude an der mitreißenden, zitatengetränkten Rede aufwarten konnte. "Don Carlos" nannten ihn seine Genossen, beeindruckt von seinen intellektuellen Gaben. Aber Carlo Schmid wurde - nichts, jedenfalls nichts, was seinen überragenden Fähigkeiten entsprochen hätte.

Die Gaben eines ehrlichen Maklers - sie sind heute nicht hoch genug einzuschätzen

Wenn man die Kür von Steinmeier in der historischen Perspektive betrachtet, dann könnte man sie auch als eine späte Wiedergutmachung für die Demütigung der Sozialdemokraten durch die Union im Jahr 1959 sehen. Es war so damals: Kaum hatte der Bundestagspräsident Eugen Gerstenmeier die zehnjährige Amtsführung von Theodor Heuss als erstem Bundespräsidenten mit dem Satz gewürdigt, dass sie die "Unterwerfung der Macht unter den Anspruch des Geistes" gewesen sei, exerzierte die Adenauer-CDU das blanke Gegenteil mit der Wahl von Lübke und der Missachtung von Carlo Schmid: die Unterwerfung des Amtes unter die Macht.

Es ist also nicht so, dass erst Angela Merkel das Gemauschel um den Bundespräsidenten - siehe Horst Köhler, siehe Christian Wulff - entdeckt hätte. Der Erfinder der Mauscheleien war Adenauer. Und es war ein großes Glück, dass trotzdem beeindruckende Präsidenten an die Spitze des Staates kamen, Leute wie Richard von Weizsäcker.

Weizsäcker muss man nennen, wenn nun Steinmeier auf den Schild gehoben wird - nicht deswegen, weil Steinmeier, wie einst Weizsäcker, für die Gabe der goldenen Rede bekannt wäre; das gewiss nicht. Steinmeier ist erfahren, integer, skandalfrei und beliebt, aber kein gewaltiger Redner. Er ist keiner, der es bisher verstanden hätte, "die großen Streitfragen intellektuell ins Schweben zu bringen und handliche Begriffe in den Diskurs zu werfen" - wie es der Politologe Hans-Peter Schwarz einmal als die Aufgabe des Bundespräsidenten beschrieben hat. Aber: Steinmeier ist innenpolitisch gewappnet und außenpolitisch versiert. Er hat das Talent des diplomatischen Weberschiffchens, eines ehrlichen Maklers; das sind Gaben, die heute nicht hoch genug geschätzt werden können. Mit den Gaben, die Steinmeier hat, ist er ein Anti-Trump.

Aber das ist es nicht, warum einem Weizsäcker einfällt, wenn es um die Nominierung Steinmeiers zum zwölften Bundespräsidenten geht. Der CDU-Politiker Weizsäcker war vielmehr der erste und bisher letzte Parteipolitiker, der nicht erst für die zweite Amtsperiode als Bundespräsident, sondern schon für die erste von CDU/CSU und SPD gemeinsam gewählt wurde. Das war 1984. Steinmeier ist nun, 32 Jahre später, der zweite Parteipolitiker, der von den genannten Parteien gemeinsam neu ins Amt gewählt werden soll. Gewiss: Auch Joachim Gauck wurde 2012 von der großen Phalanx gewählt. Aber er war kein Parteipolitiker. Also ist das Bezugsjahr das Jahr 1984: Die SPD sagte damals mangels eigener Mehrheit in der Bundesversammlung der Union zu, auf einen SPD-Kandidaten zu verzichten - wenn die Union Berlins Regierenden Bürgermeister, also Weizsäcker (CDU), aufstellt. Der war ganz und gar nicht der Wunschkandidat von Kanzler Helmut Kohl; aber das Arrangement galt. Weizsäcker wurde Präsident, und bei seiner Wiederwahl 1989 stellten auch die Grünen keinen eigenen Kandidaten mehr auf.

CDU und CSU stehen in der Bundesversammlung gut da. Nur einen Kandidaten hatten sie nicht

Die Kür von Steinmeier im Jahr 2016 ist nun also die Wiederkehr des Jahres 1984 - unter umgekehrtem parteipolitischen Vorzeichen. Damals hatte die SPD keinen Kandidaten, den sie in eine Kampfabstimmung gegen Weizsäcker hätte schicken wollen oder können. Heute hat die CDU/CSU keinen, obschon sie in der Bundesversammlung (anders als die SPD damals) stattlich dasteht. 2016 geschieht also, wie 1984, ein Sprung über den parteipolitischen Schatten; das ist nicht schlimm, im Gegenteil. Das kann, wie das Beispiel Weizsäcker zeigt, der Auftakt zu einer glänzenden Amtszeit sein.

Steinmeier ist ein Erfahrungsanker. Die Hoffnungen, die sich mit einem Bundespräsidenten Steinmeier verbinden, sind nicht gering.

© SZ vom 15.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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