Bundesverfassungsgericht und EuGH:So weit der Arm des Richters reicht

Bundesverfassungsgericht

Die Verfassungsrichter in Karlsruhe

(Foto: dpa)

Das Bundesverfassungsgericht hat einen Fall an den Europäischen Gerichtshof weitergeleitet - zum ersten Mal überhaupt. Es geht um die brisante Frage, ob die Europäische Zentralbank sich bei der Euro-Rettung zu viele Rechte angemaßt hat.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Es geht also doch. Zum ersten Mal in seiner Geschichte hat das Bundesverfassungsgericht getan, was in der deutschen Justiz längst zum Alltag gehört. Es hat dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) einen Fall zur "Vorabentscheidung" vorgelegt. Nicht irgendeinen Fall, sondern das europapolitisch hoch brisante Verfahren zu den Anleihekäufen der Europäischen Zentralbank (EZB). Vorabentscheidung? Man sieht dem Juristenbegriff die historische Dimension dieses Vorgangs nicht an: Das mächtige und selbstbewusste Verfassungsgericht hat den Vorrang des EuGH bei der Auslegung des Europarechts anerkannt. Und zwar in der Praxis, nicht nur in der Theorie. Endlich!

"Zentraler Zwischenerfolg"

Geklagt hatten der CSU-Politiker Peter Gauweiler und Abgeordnete der Linken sowie mehrere Klägergruppen. Sie dürfen den Beschluss in der Tat als "zentralen Zwischenerfolg" (Gauweiler) verbuchen. Denn das deutsche Verfassungsgericht hat die Kollegen in Luxemburg mit seinem Beschluss regelrecht herausgefordert. Was nicht überrascht: Wenn es in den letzten Jahren galt, die Eurorettung juristisch zu prüfen, wandelte Karlsruhe auf dem schmalen Grat zwischen einer grundsätzlichen Akzeptanz der milliardenteuren Programme und ihrer demokratischen Rückbindung an den Bundestag. Und signalisierte damit: Es gibt ein paar Leute, die - so alternativlos die Finanzhilfen sein mögen - über die Einhaltung des Rechts wachen. Und die sitzen in Karlsruhe.

Der Zweite Senat unter Vorsitz von Andreas Voßkuhle und mit dem in Europafragen nicht minder selbstbewussten Berichterstatter Peter Huber hat dem EuGH einen wuchtigen 52-Seiten-Beschluss geschickt, in dem er klar und deutlich ausspricht: Das OMT-Programm (Outright Monetary Transactions) der EZB, also Mario Draghis Ankündigung, Staatsanleihen notleidender Mitgliedsstaaten notfalls in unbegrenzter Höhe zu kaufen, verstößt gegen europäisches Recht. Jedenfalls dann, wenn man das europäische Recht so interpretiert wie der Zweite Senat.

Außerhalb der Zuständigkeiten

Denn die EZB handle damit nicht mehr innerhalb ihres auf Währungspolitik beschränkten Mandats, sondern betreibe erstens Wirtschaftspolitik und verletze - zweitens - das Verbot, die Budgets maroder Staaten zu sanieren: "Ein Ankauf von Staatsanleihen, mit denen ein erhöhtes Ausfallrisiko oder sogar die Gefahr eines Schuldenschnittes verbunden ist, dürfte gegen das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung verstoßen." Auch, weil damit die Banken klammer Staaten von Papieren mit geringer Bonität entlastet würden. "Damit würde das Eurosystem nicht nur die Funktion einer "Bad Bank" für die Banken in den Programmstaaten übernehmen, sondern auch indirekt zur Finanzierung von deren Haushalten beitragen", heißt es in dem Beschluss.

Wenn die EZB derart ihr Mandat überziehe, dann handle sie "Ultra Vires" - also außerhalb der Zuständigkeiten, die der Europäischen Union und damit der EZB von den Mitgliedsstaaten zugestanden sei. Mit der Chiffre Ultra Vires hat sich Karlsruhe seit Jahren das letzte Wort in europäischen Kompetenzfragen reserviert - ausgehend von dem Prinzip, dass nun mal die Mitgliedsstaaten die Herren der europäischen Verträge seien und deshalb darüber wachen müssten, dass deren Grundlage nicht verlassen werde. In einem Beschluss von 2010 hatte das Gericht zwar Zurückhaltung in dieser Frage gelobt: Einen Kompetenzverstoß der EU-Organe werde vom Verfassungsgericht nur beanstandet, wenn er "offensichtlich" sei und zu einer "strukturell bedeutsamen Verschiebung" im EU-Gefüge führe. Hinter beide Prüfungspunkte hat Karlsruhe diesmal ein Häkchen gesetzt. "Strukturell bedeutsam" sei das OMT-Programm, weil es zu einer "erheblichen Umverteilung zwischen den Haushalten und damit den Steuerzahlern der Mitgliedsstaaten" führen könne und so "Züge eines Finanzausgleichs" trage.

Was, wenn Luxemburg nicht die bestellten Antworten liefert?

Wie gesagt: Ein Vorabentscheidungsverfahren. Also eine Anfrage. Der EuGH mag die Sache anders sehen - beim EU-Recht ist seine Auslegung bindend. Die erwünschten Antworten hat Karlsruhe aber gleich mitgeliefert: kein Schuldenschnitt, bitte. Und kein "unbegrenzter" Ankauf von Staatsanleihen einzelner Statten. Und möglichst wenig Eingriffe in die Preisbildung. Womit sich die Frage stellt: Was, wenn Luxemburg nicht die bestellten Antworten liefert? Die theoretische Antwort lautet: Das Verfassungsgericht könnte sogar ein Urteil des EuGH als Kompetenzverstoß brandmarken - was eine Kampfansage wäre, die keiner will. Realistisch dürfte eher folgende Prognose sein: Der EuGH wird die Wünsche aus Karlsruhe umsetzen, wenigstens halbwegs. Und das Verfassungsgericht wird - vielleicht murrend - beidrehen. Und die EZB wird damit leben können.

Die Pointe des Verfahrens ist allerdings eine andere. Die EZB habe ihre Befugnisse überschritten, rügt das Verfassungsgericht - und überdehnt dabei selbst seine Zuständigkeiten. So sehen es jedenfalls die beiden Richter, die gegen die Entscheidung ihrer sechs Kollegen votiert haben. "In dem Bemühen, die Herrschaft des Rechts zu sichern, kann ein Gericht die Grenzen richterlicher Kompetenz überschreiten. Das ist meiner Meinung nach hier geschehen", schreibt die wortgewaltige Bielefelder Professorin Gertrude Lübbe-Wolff. Es gehe hier um eine politische Frage, zu entscheiden von Bundestag und Bundesregierung, sekundiert Michael Gerhardt, ein nicht minder kritischer Geist.

Die beiden fulminanten "Dissentings" legen die Tiefenschicht des Verfahrens offen. Gewiss, es geht um eine rechtliche Kontrolle der EZB - dass die deutschen Richter hier den Blick ihrer europäischen Kollegen schärfen wollen, dürfte der Sache guttun. Es geht aber auch um die Frage, wie weit eigentlich der Arm der deutschen Richter reicht - gerade gegenüber einer unabhängigen und originär europäischen Institution wie der EZB. Das Grundgesetz gibt dafür wenig her, ein Grundrecht auf vertragskonformes Verhalten gibt es nicht. Das Verfassungsgericht hat sich zwar einen Weg weit ins Innere des europäischen Rechts gebahnt, indem es aus dem Wahlrecht der Deutschen eine Art Universalklagerecht herausdestilliert hat. Im EZB-Verfahren ist dem Gericht nach Ansicht von Lübbe-Wolff und Gerhardt dieser Weg aber versperrt. Weil er mitten in der Politik endet.

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