Union und Bundesverfassungsgericht:Kritik auf dürftiger Grundlage

Betreuungsgeld

Kopftuch, Erbschaftsteuer, Wahlrecht: Greifen die Verfassungsrichter zu sehr in politische Fragen ein?

(Foto: dpa)

Mischen sich die Verfassungsrichter zu sehr in die Politik ein? Wer aus wenigen Urteilen den Schluss zieht, Karlsruhe gehe zu weit, macht es sich zu einfach. Die Argumente, mit denen die Union das Bundesverfassungsgericht attackiert, sind dünn.

Kommentar von Wolfgang Janisch

Aus den Reihen der Union war zu hören, das Bundesverfassungsgericht möge von "Eingriffen in die politische Entscheidungsfreiheit der Organe der Gesetzgebung" Abstand nehmen. Die Regierungspartei betrachtete das selbstbewusste Gericht mit Skepsis - und schickte daher eine Warnung gen Karlsruhe.

Das war 1952, das Bundesverfassungsgericht war ein Jahr alt und steckte bereits tief im politischen Konflikt. Es ging um die Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, vor allem aber um die Rolle des Gerichts im Gefüge der Institutionen. Der Ausgang ist bekannt: Das Gericht setzte sich durch.

Insofern könnte man die jüngste Kritik mehrerer einflussreicher Unionspolitiker als Variation eines uralten Themas abtun - eine Kritik, mit der man vermutlich den Boden für die erwartete Niederlage im Karlsruher Verfahren zum Betreuungsgeld bereiten will. Das Gericht greife in die politische Entscheidungsfreiheit ein, sagt Gerda Hasselfeldt. Sein Gestaltungsanspruch in "hochpolitischen Fragen" sei problematisch, sekundiert Norbert Lammert.

Es ist das altbekannte Schema: Man reiht ein paar Urteile aneinander, mit denen man unzufrieden war - Kopftuch, Erbschaftsteuer, Wahlrecht - und extrapoliert daraus die vermeintliche Übergriffigkeit der Karlsruher Richter. Das ist, als würde man Zwei plus zwei plus zwei zu einer Summe von 222 addieren.

Die Argumente der Union sind dünn. Bei der Erbschaftsteuer hat das Gericht ein Gesetz zerschossen, das Unternehmen zur Trickserei geradezu einlud. Zudem hat das Gericht der Politik einen großen Spielraum gelassen, das Problem zu beheben, zum Beispiel durch ein System mit niedrigen Steuersätzen, die dann aber für alle gelten.

Bei den gekippten Sperrklauseln für Europa- und Kommunalwahlen ist die Union, vorsichtig ausgedrückt, selbst nicht ganz unparteiisch; wenn die Stimmen für die Kleinparteien nicht mehr unter den Tisch fallen, kostet das die großen Parteien ein paar Mandate. Und zum Kopftuch für muslimische Schülerinnen kann man zwar verschiedener Meinung sein. Nur ist dies - im Spannungsfeld von Religionsfreiheit und staatlicher Neutralität - nun wirklich eine originäre Verfassungsfrage.

Machtanspruch der großen Koalition schimmert durch

Irritierend an der Kritik ist etwas anderes. Als die Union in den 90er-Jahren gegen die Entscheidungen zum Kruzifix und zu "Soldaten sind Mörder" Sturm lief, griff sie eine emotional aufgeladene Stimmung in der Bevölkerung auf. Inzwischen aber agiert sie, seit einigen Jahren schon, mit strategischer Kühle. Wieder und wieder versucht die Union, das Gericht zu diskreditieren.

Da mag der Neid der schlecht beleumundeten Politik auf das ungebrochen hohe Ansehen des Gerichts hineinspielen. Es schimmert aber auch der Machtanspruch einer großen Koalition durch, die das einzige Verfassungsorgan außerhalb der Hauptstadt als Störfaktor in einer zentralisierteren Berliner Republik wahrnimmt. Der Selbstbehauptungswille, den das Gericht zu Adenauers Zeiten entwickelt hat: Es wird ihn noch brauchen können.

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