Bundesverfassungsgericht:Lob der Blindheit

Karlsruhe genießt bei den Bürgern so viel Vertrauen, weil es als unabhängig von der Politik gilt. Doch es gibt Anzeichen, dass sich das ändern könnte.

Von Wolfgang Janisch

In einer Welt, in der die politische Mehrheit das Maß aller Dinge ist, mögen die Bedenken merkwürdig klingen, die derzeit aus Karlsruhe zu hören sind. Ein weiterer "grüner" Richter soll in den Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts entsandt werden, mit der Folge, dass sich dort für die nächsten Jahre eine rot-grüne Mehrheit etabliert. Ginge es um ein politisches Gremium, dann würden die Rechten versuchen, die Mehrheit zu drehen, und die Linken, sie zu verteidigen. In Karlsruhe denkt man dagegen - und das ist ehrenwert - an das große Ganze: Es drohe die Entstehung eines linken Senats, dies setze das Vertrauen in die überparteiliche Neutralität des Gerichts aufs Spiel. Das hört man von Richtern jeder Couleur: Auch den "Linken" ist ein kleiner Sieg bei der Urteilsabstimmung weniger wert als der große Gewinn, den die hohe Wertschätzung für die Institution einspielt.

Die Parteien dürfen Karlsruhe nicht politisieren, sonst verlieren die Richter das Vertrauen im Volk

Allerdings muss man sagen: Im Grunde sind die Bedenken ein Einspruch gegen die veränderte Wirklichkeit. Denn die Grünen fordern lediglich, die Zusammensetzung des Gerichts den Kräfteverhältnissen in Zeiten geschrumpfter Volksparteien anzupassen. Gewiss, ein Karlsruher Senat ist kein Parlamentsausschuss, er muss keine Mehrheiten nachzeichnen. Richter werden vom Bundestag und Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit gewählt. Das hat dazu geführt, dass bisher Union und SPD das Feld fast allein bestellen durften. Nur gehören die Grünen in diesem Kontext inzwischen auch zu den Großen, weil sie im Bundesrat für die Hälfte der Posten ein Blockadepotenzial haben. Und zum linken Schreckgespenst taugen die Grünen längst nicht mehr, sie haben bereits zwei respektable Richter nach Karlsruhe entsandt. Einst Brun-Otto Bryde, zuletzt Susanne Baer; sie haben die Institution nicht gestürmt, sondern gestärkt.

Aber es ging den Richtern ohnehin nicht um die Grünen. Ihre Kritik ist vielmehr ein dringlicher Appell an alle Parteien, die Politik nicht ins Gericht hineinzutragen. Ein "linker" Senat muss nicht einmal wirklich links sein, es genügt, wenn er so aussieht, um den Konservativen bei umstrittenen Urteilen eine Angriffsfläche zu bieten; umgekehrt wäre es nicht anders. Wenn man aber nach Köpfen abzählen könnte, wie das nächste Urteil ausgeht, dann wäre man beim Modell des Supreme Court der USA - also bei einem hoffnungslos gespaltenen Gericht. Der deutsche Weg war immer anders. Das Zweidrittelquorum verhindert extreme Kandidaten, es bringt Richter aus der politisch-weltanschaulichen Mitte hervor, die - im Großen und Ganzen - den Ausgleich suchen. Die Bürger haben das mit überbordendem Vertrauen belohnt. Und wenn nicht alles täuscht, wird das Gericht als Mediator wichtig bleiben, in einer Gesellschaft, die auseinanderdriftet, in einem politischen Spektrum, das die Extreme besetzt.

Es ist Aufgabe der Parteien, diese Funktion des Gerichts zu erhalten. Daran könnte auch eine Änderung des Wahlmodus nichts ändern. Demokratische Legitimation lässt sich kaum anders herstellen als über Bundestag und Bundesrat, wo Parteien bestimmen. Sie müssen geeignete Persönlichkeiten auswählen, die fachlich versiert sind, sozial kompetent, integer, durchsetzungsstark. Das verlangt den Parteien viel ab, weil gute Richter nun mal dazu neigen, unabhängig zu urteilen - womit sie sich gelegentlich, wie die Kinder von den Eltern, von den Vorstellungen der Richtermacher entfernen.

Trotzdem hat das bisher gut funktioniert, ohnehin sind viele Verfassungsrichter gar nicht parteigebunden. Aber in letzter Zeit mehren sich Anzeichen, dass das System leidet. Die SPD wirkt bei der Kandidatensuche gelegentlich ratlos; offenbar gibt es niemanden mehr, der - wie einst Herta Däubler-Gmelin oder Brigitte Zypries - die Juristenszene wirklich im Blick hätte. Derweil hat die CDU mit ihrem letzten Kandidaten Josef Christ den Eindruck erweckt, sie wolle einen strammen Parteisoldaten nach Karlsruhe schicken. Das muss nicht stimmen, Christ hat seit dem Erhalt der Ernennungsurkunde alle Freiheit, sich als unabhängiger Kopf zu zeigen. Aber nach allem, was zu hören ist, wollte die Union mit der Personalie ein deutlich konservatives Zeichen setzen.

Dies alles ist noch kein Menetekel. Es zeigt aber, wie sehr die Existenzbedingungen des Gerichts von einem Politikbetrieb abhängen, der über den Tag hinausdenkt. Den dazu passenden Begriff hat die SPD jüngst in anderem Zusammenhang benutzt: staatspolitische Verantwortung.

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