Bundesteilhabegesetz:Warum Behinderte gegen das Teilhabegesetz protestieren

Behinderte Aktivisten protestieren gegen Teilhabegesetz

Behinderte Aktivisten ketten sich im Mai an das Reichstagsufer, um gegen das geplante Teilhabegesetz zu protestieren.

(Foto: dpa)

Die Regierung lobt das geplante Gesetz als "Meilenstein der Behindertenpolitik". Menschen mit Behinderung wollen es trotzdem verhindern, sie fürchten noch mehr Armut und weniger Freiheit.

Von Timo Nicolas

Was sich die Genossen wohl dabei gedacht haben? Bei einer Veranstaltung der SPD-Bundestagsfraktion zur Behindertenpolitik sitzen die Gesprächspartner auf Barhockern, vor weiß betuchten Stehtischen. Sie möchten über Menschen mit Behinderung sprechen. Über Menschen, die im Rollstuhl sitzen zum Beispiel. Von denen ist aber niemand als Redner auf die Bühne geladen. Auf die Bühne mit den Stehtischen.

Anlass für die Tagung am vergangenen Montag ist das geplante Bundesteilhabegesetz aus der Feder des SPD-geführten Arbeits- und Sozialministeriums. Es soll das Leben für Millionen Menschen mit Behinderung verbessern. Am Mittwochabend einigte man sich im Koalitionsausschuss auf die Grundzüge des Gesetzespaketes, Arbeitsministerin Nahles sprach von einer "sehr guten Nachricht" für viele Menschen, in Regierungskreisen spricht man sogar von einem "Meilenstein in der Behindertenpolitik".

Nur die Betroffenen scheinen das anders zu sehen, was deutlich wird, als bei der Tagung am Montag zwei Menschen im Rollstuhl ungebeten auf die Bühne fahren. Einer von ihnen ist Raul Krauthausen vom Verein "Sozialhelden". Er erhält das Mikrofon und was er sagt, lässt die Genossen verdutzt zurück: "Liebe SPD, ihr habt jetzt die Gelegenheit auszusteigen. Das ist nicht mein Gesetz." Und die Frau neben ihm warnt davor, dass nach Hartz IV die SPD mit diesem Gesetz in ein "zweites Waterloo rasen wird". Die Szene ist öffentlichkeitswirksam auf Video festgehalten.

Aktivisten wie Krauthausen versuchen seit Wochen, das Teilhabegesetz zu begraben, obwohl sie es jahrelang forderten und bei dessen Entstehung stark eingebunden waren. Um die Wut auf das Ergebnis zu verstehen und die Proteste wie etwa Anfang Mai, als sich Rollstuhlfahrer an das Reichstagsufer ketteten, muss man genau auf den Referentenentwurf blicken.

Wie viel Geld darf man trotz Behinderung verdienen?

Ein Kernpunkt des Gesetzesvorschlags ist die Reform der "Eingliederungshilfe". Diese Sozialleistung ist eine wichtige Stütze im Alltag vieler Menschen mit Behinderung, die intensive Pflege benötigen. Sie soll Menschen wie Krauthausen ermöglichen, am Arbeits- und Sozialleben genauso teilzunehmen wie ein Mensch ohne Behinderung. Er und viele andere bezahlen damit ihre Assistenten, also jene Menschen, die ihnen durch den Tag, aber auch durch die Nacht helfen. Gerade die Assistenten sind ein großer Streitpunkt, denn sie sind teuer, aber lebensnotwendig für viele Menschen, die mit starken körperlichen oder psychischen Einschränkungen außerhalb eines Heimes leben. Je nach Bedarf belaufen sich die monatlichen Kosten für die Assistenten von einigen Tausend auf mehr als Zehntausend Euro im Monat.

Wer deshalb auf Eingliederungshilfe angewiesen ist, der wird vom Staat zur Kasse gebeten: Bisher darf er nur über einen Teil seines Nettoeinkommens frei verfügen. Dieser Freibetrag beläuft sich auf den doppelten Hartz-IV-Satz, das sind 808 Euro im Monat. Hinzugerechnet werden noch Kosten für eine angemessene Wohnung und ähnliche Ausgaben. Das Sozialamt entscheidet dabei, was angemessen ist.

Jeder Euro, der über diesem Freibetrag verdient wird, gehört dem Sozialamt. Jedenfalls bei denen, die Pflegestufe eins und zwei haben. Wer besonders viel Hilfe benötigt und deshalb in der höchsten Pflegestufe drei eingeordnet ist, muss dem Sozialamt immerhin noch 40 Prozent seines Einkommens geben, das über dem Freibetrag liegt.

Das Gesetz bedeutet: noch weniger Einkommen für viele Betroffene

Wer wie Raul Krauthausen nicht ohne Assistenz leben kann und Eingliederungshilfe bezieht, hat momentan deshalb wenig Anreiz, einen gut bezahlten Beruf anzunehmen. "Ich kenne viele, die deshalb nur halbtags arbeiten."

Das soll sich nach dem neuen Gesetzesentwurf ändern. Menschen die Eingliederungshilfe beziehen, sollen weiterhin Geld an das Sozialamt zahlen, um sich an den Kosten für Assistenten und anderen Angeboten zu beteiligen. Doch soll das losgelöst werden von den Hartz-IV-Regelungen.

Statt der Freibetragsregelung soll maßgeblich werden, wie viel jemand pro Jahr verdient, und zwar brutto. Von allen Einkünften, die über 30 000 Euro im Jahr liegen, werden monatlich zwei Prozent berechnet. Das heißt, wer 50 000 Euro verdient, muss monatlich 400 Euro an das Sozialamt überweisen. Egal wie er wohnt, egal wie hoch die Hartz-IV-Sätze sind, egal welche Pflegestufe. Arbeit soll sich also wieder mehr lohnen.

Aber: Das sei trotzdem eine finanzielle Verschlechterung für die meisten, sagt Harry Hieb von NITSA, einem Verein, der sich für Behindertenrechte einsetzt. Und für ihn wird es sogar noch teurer. Denn wie fast alle, die auf Hilfe von Assistenten angewiesen sind, erhält er noch Geld aus einem zweiten Topf, der "Hilfe zur Pflege". Und sobald dies der Fall ist, hält der Staat ein zweites Mal die Hand auf. In dem Beispiel würde das bedeuten: Zu den monatlich 400 Euro kommt noch einmal die Hälfte dessen hinzu, was man heute schon zahlen muss. "Für mich verdreifachen sich die Abgaben", sagt Hieb.

Kein Sparen, kein Häuslebauen, auch nach der Reform

Diese Tücke mit den beiden Geldtöpfen trifft Menschen mit Behinderung auch bei der Altersvorsorge. Harry Hieb verdient gut, hat studiert, arbeitet als Ingenieur bei Airbus. Doch er benötigt fast durchgehend Helfer, weshalb er einen großen Teil seines Einkommens an das Sozialamt zahlen muss. Trotzdem bleibt am Ende des Monats eigentlich etwas übrig. Er kann damit nur nichts anfangen, denn sparen darf er nicht. "Ich werde, wenn ich alt bin, meinen Lebensstandard nicht halten können."

Grund dafür ist eine sehr restriktive Regelung: Bisher dürfen Bezieher von Eingliederungshilfe nur 2600 Euro ansparen, alles darüber müssen sie abgeben. Das führt dazu, dass Menschen wie Harry Hieb die Wahl haben: Das Geld ausgeben für alles Nötige und Unnötige, oder an das Sozialamt zahlen. Am Ende des Monats ist es so oder so weg. Zurücklegen ist nicht möglich, also keine private Altersvorsorge, keine Lebensversicherung, kein Bausparvertrag und kein Geld auf der hohen Kante.

Das soll sich laut Referentenentwurf des Sozialministeriums ändern. In Zukunft sollen Betroffene etwas über 50 000 Euro ansparen können. Theoretisch. Denn hier gibt es das gleiche Problem wie beim Einkommen: Wer Geld durch die Hilfe zur Pflege bezieht, ist von der Neuregelung nicht betroffen. Hieb von NITSA gehört dazu, Raul Krauthausen von den Sozialhelden auch, so wie allgemein mehr als 90 Prozent aller, die auf Assistenten angewiesen sind, schätzen beide Vereine. Sie dürften in Zukunft nur 25 000 Euro zur Seite legen. Und auch nur Geld, das sie sich erarbeitet haben. Wer erbt oder durch Heirat zu Geld kommt, verliert alles an den Staat. Dass aus Regierungskreisen aber ausschließlich die 50 000 Euro betont werden, nennt Raul Krauthausen "Propaganda".

Sowohl 25 000 Euro wie auch das Doppelte sind nur eine bedingt ausreichende private Altersvorsorge, wenn man bedenkt, dass viele Menschen mit Behinderung schon frühzeitig in Rente gehen und deshalb nicht den vollen Satz bekommen. "Altersarmut betrifft eigentlich alle", sagt Krauthausen, "und das führt zu psychischer Belastung, das merke ich zunehmend an mir selbst." Er könne weder für sich noch für seine Kinder vorsorgen.

Angst vor heimartigen Zuständen

Im Entwurf ist auch das sogenannte Poolen von Leistungen vorgesehen. Konkret bedeutet das, dass ein Assistent für mehrere Menschen eingesetzt werden soll. Das macht durchaus Sinn: Auf einer Veranstaltung mit mehreren Gehörlosen braucht es nicht einen Gebärdendolmetscher für jeden. Auch in einer inklusiven Schule kann eine Assistenz für zwei Schüler pro Klasse ausreichen.

Harry Hieb befürchtet jedoch, dass er dadurch in seinem selbstbestimmten Leben eingeschränkt wird. Grund dafür ist die geplante Änderung eines bestehenden Grundsatzes. Bisher galt grob gesagt: Eine ambulante Betreuung ist einer stationären wenn möglich vorzuziehen. Diese Passage soll nun wegfallen. Das könnte die Behörden dazu veranlassen, heimartige Strukturen bei Menschen zu etablieren, die bewusst nicht im Heim leben möchten. So befürchten es Behindertenverbände.

Um die hohen Kosten für Assistenten zu reduzieren, könnte beispielsweise ein Helfer für mehrere Bewohner eines Hauses oder einer Straße eingesetzt werden. Das würde für die Betroffenen aber bedeuten, nicht mehr selbst bestimmen zu können, wann man einkauft, wann man ins Bad geht und wann mit dem Zug nach Berlin. Alles müsste abgestimmt werden. "Am Ende fährt man dann als Wohngruppe zusammen Eisessen", sagt Harry Hieb. "Dann werden wir gezwungen, uns nur noch in Gruppen zu bewegen." Ein selbstbestimmtes Leben stellt er sich anders vor. Deshalb fordert er Pooling nur auf freiwilliger Basis.

Nicht behindert genug

Stark kritisiert wird auch die neue Regelung, wer Anspruch auf Eingliederungshilfe hat und wer nicht. Ab sofort muss ein Mensch mit Behinderung in fünf von neun definierten Lebensbereichen eingeschränkt sein. "Wer aufgrund einer Sehbehinderung Hilfe zur Mobilität und beim Lernen benötigt, ist nicht behindert genug", schreibt das Aktionsbündnis "Nicht mein Gesetz".

Aber es gibt auch positive Stimmen. Ulla Schmidt, ehemalige Gesundheitsministerin, hat im Tagesspiegel lobende Worte für den Entwurf übrig. "Das Gesetz beschreibt Schritte hin zu einem fundamentalen Umdenken", sagt die Vorsitzende des Verbandes "Lebenshilfe", der die Interessen von Menschen mit geistiger Behinderung vertritt.

Für die Gesetzesgegner ist es trotzdem eine Mogelpackung. Deshalb sagt auch NITSA-Mitglied Hieb: "Wir wollen das Gesetz nicht." Und auch Raul Krauthausen von den "Sozialhelden" stimmt zu: "Das Gesetz hat an so vielen Stellen große Probleme, dass ich nicht glaube, dass es in der Kürze der Zeit noch verbessert werden kann." Zu sehr stünden die Kosten im Mittelpunkt. Im Juni soll es im Kabinett verbaschiedet werden, Anfang nächsten Jahres in Kraft treten.

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