Bundestagswahl:Wo ist die große Idee für Europa?

Europa-Flagge

Europa spielte im deutschen Wahlkampf kaum eine Rolle.

(Foto: picture alliance / dpa)

Nicht mal der Herzenseuropäer Schulz wirbt im Wahlkampf für die EU, klagt Ulrike Guérot. Die Publizistin fordert von Merkel, mit Macron eine historische Chance nutzen. Wenn nicht: "Dann ist die EU wahrscheinlich am Ende."

Interview von Miguel Helm

"Wo muss ich eigentlich hinfliegen?" Ulrike Guérot ist im Stress, gerade war sie in Stockholm auf einer Konferenz, jetzt steht sie im Flughafen, gleich ist Check-In. Guérot bekommt monatlich um die 90 Einladungen zu Vorträgen überall in Europa. Die 52-Jährige muss nach Österreich, an der Donau-Universität Krems ist sie Professorin für Europapolitik. In Berlin gründete sie das European Democracy Lab an der European School of Governance.

Europa spielt im deutschen Wahlkampf kaum eine Rolle. Ist die Zukunft der EU den Deutschen wirklich so egal oder nehmen die Politiker die Bürger nicht ernst?

Ich erlebe viele aufgeweckte Bürgerinnen und Bürger, die wahnsinnig besorgt sind um die Zukunft Europas und darum, was die deutsche Politik da macht. Die meisten sind, was Europa angeht, weiter als die Parteien. Diese Bürger haben kapiert, dass die Europäische Union in der jetzigen Form nicht funktioniert. Sie können verstehen, dass es eine Fiskal- und Sozialunion braucht, zum Beispiel mit europaweiter Arbeitslosenversicherung. Aber in Deutschland vertritt niemand diese Politik, außer ansatzweise die Grünen. Die anderen Parteien glauben, dass man mit Europa keine Wahl gewinnen kann.

In Frankreich hat das doch geklappt, siehe Präsident Emmanuel Macron.

Ja, er hat bewiesen, dass man erfolgreich sein kann, wenn man sich hinstellt und sagt: "Wir sind Europa. Da wollen wir hin." Als Martin Schulz im März seinen Höhenflug in den Umfragen gehabt hat, hat auch er zu einem Europa-Wahlkampf angesetzt und zum Beispiel über das Thema Euro-Bonds geredet. Ich glaube, dass das Absinken der SPD in den Umfragen unter anderem damit zu tun hat, dass er sich nicht offensiv für Europa in der Art eines "deutschen Macron" präsentiert hat.

Hat Sie der Herzenseuropäer Martin Schulz und frühere EU-Parlamentspräsident enttäuscht?

Ja, hat er. Mich hat erschrocken, dass er Europa nicht stärker thematisiert hat. Ich werfe ihm das nicht vor, aber es spricht dafür, dass es gerade in Deutschland nicht mehr möglich ist, mit Europa Erfolg im Wahlkampf zu haben.

Bleiben wir bei Macron. Er fordert, dass die EU einspringen soll, wenn ein Land Zahlungsprobleme hat. Finanzminister Wolfgang Schäuble hat Andeutungen gemacht, dass dies für ihn vorstellbar wäre. Darauf warf ihm AfD-Sprecher Jörg Meuthen vor, deutsche Steuergelder zu verschenken.

Die AfD treibt Merkel und Schäuble vor sich her. Was den deutschen Steuerzahler angeht: Wir können nicht sagen, Europa hat einen absoluten Wert für uns - und dann sind wir nicht bereit dafür zu zahlen. Als wenn Werte keinen Preis hätten. Wir müssen für Europa zahlen oder es gibt kein Europa, aber dann zahlen wir den Preis für kein Europa und das ist noch viel teurer. Manche Dinge sind unverhandelbar. Europa passt in keine Excel-Tabelle. Es wurden Dinge in der deutschen Geschichte getan, die einen hohen Preis hatten, etwa die Wiedervereinigung. Keine Politik ist umsonst.

Hat die Bedeutung Europas für Deutschland abgenommen?

Ja, Deutschland und Europa, das ist wieder schwierig und es ist nicht leicht auszumachen seit wann. Mitte der letzten Dekade gab es eine Art "deutschen Moment", den "Wir-sind-wieder-wer"-Moment. Danach kam die Bankenkrise und dann war Schluss mit Europa. Es war bisher immer deutsche Staatsräson, dass wir kein nationales Interesse gegen Europa geltend machen. Das hat sich geändert. Dadurch fallen auch Selbst- und Fremdwahrnehmung der Deutschen sehr weit auseinander. Do you know we hate you again, sagte mir ein guter italienischer Freund kürzlich. Andere hassen uns wieder. Und wir glauben, die anderen finden uns immer noch toll und sagen ihnen die ganze Zeit, sie sollen sich an uns ein Beispiel nehmen.

Ihr neues Buch trägt den Titel "Der neue Bürgerkrieg". Ist Europa im Bürgerkrieg?

Den Titel hat der Verlag gewählt, weil es in dem Buch ein Zitat von Ernst Marc gibt, der den Ersten Weltkrieg nicht als Krieg zwischen Nationen, sondern zwischen europäischem Geist und Ungeist sieht. Diejenigen, die das europäische Erbe der Aufklärung verteidigen, stehen gegen tumbe Nationalisten. Da sehe ich eine Analogie zur heutigen Situation in Europa. Ich argumentiere, dass wir uns nicht in einer Phase der Renationalisierung befinden, wie immer behauptet wird, sondern dass der Populismus die europäischen Nationen spaltet - siehe Großbritannien, Frankreich oder Polen. Auf der einen Seite sind die Populisten, also Brexit-Befürworter im Vereinigten Königreich, Anhänger von Marine Le Pen in Frankreich und Norbert Hofer in Österreich; auf der anderen Seite die Brexit-Gegner, Macron und Präsident Alexander Van der Bellen. Am Ende steht eine Menge von unversöhnlichen Bürgern gegen eine andere Menge. Aber keine dieser Mengen bildet das Volk ab, keine repräsentiert den politischen Körper. Durch den Populismus erleben wir eine Krise der Repräsentation.

Brüssel ist das wichtigste Feindbild für Populisten und dient überall zur Mobilisierung. Sie schreiben: Wer den Rechtsextremismus besiegen will, muss mit Europa ernst machen. Was heißt das?

Europa muss in Themen gemacht werden, die die Leute interessieren. "Wenn es die Nation nicht mehr gibt, wer kümmert sich dann um die Armen?" So hat Marine Le Pen gegen Europa gewettert. In ihrer Analyse hat sie Recht. Solange Europa sich nicht um die soziale Frage kümmert oder kümmern darf, wird es kein Europa geben. Wenn wir ein soziales Europa, etwa mit einer gemeinsamen Grundsicherung, schaffen, dann würden wir dieser Kritik den Boden entziehen.

Was ist noch zu tun?

Ein anderer Punkt ist Mitsprache auf europäischer Ebene. Wir müssen neu nachdenken über die Möglichkeiten der demokratischen Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern. Dann könnten wir auch Leuten wie Boris Johnson entgegen treten, die sagen: Wir sind gegen Europa, weil wir keine Kontrolle darüber haben. Letztlich sind immer die Bürger, und nicht die Staaten der Souverän. In der EU aber entscheiden immer die Staaten im Europäischen Rat.

Sie sagen stets, Berlin sei die eigentliche Hauptstadt Europas. Für die Veränderung der EU zählt, wer im Kanzleramt sitzt, also wahrscheinlich weiterhin Angela Merkel. Hat sie eine Vision für Europa?

Hatte sie eine bei der Entscheidung für die "Ehe für alle" oder bei der Energiewende? Nein. Was sie aber offensichtlich hat, ist ein Gespür für politische Situationen. Sie hat bewiesen, dass sie Dinge ändern kann. Merkel könnte alles auf eine Karte setzen und Europa erneuern, zumal es ihr letztes Mandat ist. Es ist wieder so ein historischer Moment wie 1992, als die Europäische Union in Maastricht per Vertrag gegründet und der Euro beschlossen wurde, weil es das Paradigma deutscher Politik war, dass deutsche und europäische Einigung zusammen gehören. Damals waren es Kanzler Helmut Kohl, der französische Präsident Francois Mitterand und EU-Kommissionspräsident Jacques Delors. Heute könnten es Merkel, Macron und Kommisionspräsident Jean-Claude Juncker sein...

... die beiden wirken mutiger als Merkel.

Genau, Macron und Junker stehen schon da und haben ihre Hände ausgestreckt. Merkel könnte diesen Moment nutzen, um den einen Markt und die eine Währung um die eine europäische Demokratie zu ergänzen, die wir als europäische Bürger brauchen. Nation, das heißt in erster Linie Staatsbürgergemeinschaft, sagte schon 1963 der im übrigen konservative Historiker Theodor Schieder. Oder sie könnte Europa im Orkus der Geschichte versenken, indem sie sich für kurzfristige nationale Interessen entscheidet. Dann ist die EU wahrscheinlich am Ende.

Welche Rolle spielt dabei der künftige Koalitionspartner? Macron fürchtet, dass seine EU-Reformpläne von der FDP blockiert werden könnten.

Die FDP hat schon in der letzten schwarz-gelben Koalition gegen die eigene Regierungspolitik geklagt und schließlich eine Urabstimmung durchgeführt, die schließlich einen Teil der FDP-Wähler zur AfD geführt hat. Christian Lindner wettert wieder mit deftigen Anti-Brüssel-Sprüchen gegen den Euro. Er wird von Teilen des deutschen Mittelstands dafür gefeiert. Er will der AfD die Wähler abfischen. Aber manchmal fragt man sich, was Hans-Dietrich Genscher, einer der Väter des Euro, dazu sagen würde.

Sie zitieren mit Blick auf die EU gerne Gorbatschow mit dem Satz: Wer zu spät kommt, den bestraft die Geschichte. Ist es für Rettung Europas schon zu spät?

Es ist wie bei der Titanic, da hat man das Ruder noch herumgerissen, aber der Bug ist trotzdem auf den Eisberg geknallt. Wir fangen in Deutschland sehr spät an, uns wieder um Europa zu kümmern, weil wir die Eurokrise hier nicht richtig bemerkt haben. Aber warum sollte uns heute eine Veränderung unter erschwerten Bedingungen gelingen? Doch die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.

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