Bundestagswahl:Wir Kinder Merkels

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Im ihrem ersten Bundestagswahlkampf 2005 war Angela Merkel 51 Jahre alt, unser Autor war damals zehn. (Foto: AP)

Mehr als die Hälfte seines Lebens war Angela Merkel die Bundeskanzlerin unseres Autors. Wie ihr Stil das Politikverständnis einer ganzen Generation geprägt hat - und warum das jetzt zum Problem werden könnte.

Von Miguel Helm

Eigentlich wollte ich Fußball gucken, als Angela Merkel zum ersten Mal in mein Leben trat. Ich war zehn, natürlich war da Sport gucken auf DSF interessanter als Politik in der ARD. Ich hatte ja auch keine Ahnung davon. An diesem Septemberabend 2005 hatte sich aber meine ganze Familie vor dem Fernseher versammelt, selbst meine Uroma, die kein Wort Deutsch verstand. Ich quetschte mich zwischen sie und meinen Vater. Ich quengelte, wollte umschalten. Mein Vater drehte sich um, schwieg mit bösem Blick, wie er das machte, wenn er pädagogisch wurde. "Miguel, das ist wichtig. Das ist Politik. Das ist deine Zukunft", sagte er dann.

Meine Zukunft war also eine überschminkte Frau mit rekordverdächtig weit nach unten gezogenen Mundwinkeln. Das dachte ich damals. Mittlerweile bin ich 22 Jahre alt. Mehr als die Hälfte meines Lebens ist Angela Merkel schon Bundeskanzlerin, die einzige, die ich bewusst erlebt habe. Und seit Sonntag steht fest: Auch die nächsten vier Jahre wird sie die Frau sein, die Deutschland regiert. Am Ende der nächsten Legislaturperiode werden es dann wohl 16 Jahre unter Merkel sein. Wer so lange an der Macht ist, bestimmt nicht nur Politik, sondern auch wie Politik im Alltag stattfindet, wie darüber diskutiert und gestritten wird. Das gilt vor allem für meine Generation, die keine andere Kanzlerin kennt. Für die Demokratie in Deutschland hat das Folgen, gefährliche Folgen, aber dazu später mehr.

Merkel wollte nicht streiten - und erfand damit einen neuen Politikstil

Meine Eltern erzählen mir bis heute gern, wie ich damals am Wahlabend 2005 zum ersten Mal Politik im Fernsehen sah. Angela Merkel hatte die Wahl gewonnen, aber der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder wollte das nicht wahrhaben, war in Rage. "Man muss die Kirche doch mal im Dorf lassen." Merkel werde nicht Bundeskanzlerin, Punkt, sagte Schröder. Merkel ließ ihn machen, Schröder stellte sich als Sieger dar, der er nicht war, sondern sie, Merkel. Mein Vater erklärte mir das. Ich fand es merkwürdig. Aber weil mein Vater ganz aus dem Häuschen war vor Amüsiertheit, kicherte ich mit. Ich fragte mich: Warum verteidigt sich Merkel nicht? Warum greift sie nicht selber an? Merkel wollte das nicht, Merkel wollte nicht streiten. So habe ich es zumindest damals wahrgenommen.

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Merkels Verständnis von Politik ist einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik. Man kann sicherlich sagen, sie macht Politik ohne viel Krach, ruhig, ja friedlich. Fetzten sich Gerhard Schröder und Helmut Kohl, Franz Josef Strauß und Helmut Schmidt in ihren Wahlkämpfen, waren Merkels Wahlkämpfe eher harmonische Veranstaltungen. Man erinnere sich an das TV-"Duell" vor zwei Wochen zwischen der Kanzlerin und ihrem SPD-Herausforderer Martin Schulz.

Für Merkel ist Politik kein Streit, sie macht Politik wie eine Geschäftsfrau. Nur diejenige Ware stellt sie ins Schaufenster, bei der sie Nachfrage erwartet. Die Ware, das war nach der Nuklearkatastrophe in Fuskushima 2011 das Verbot von Kernkraftwerken und vor ein paar Monaten erst die Ehe für alle. Man kann das Geschäftssinn nennen, ja auch politische Beweglichkeit. Oder Prinzipienlosigkeit.

Ich nahm die Bundeskanzlerin bewusster und häufiger wahr, je älter ich wurde. Ich sah sie oft neben meinem Nutella-Brot und meinem Kakao auf dem Frühstückstisch. Sie war ständig in der Zeitung. Meistens überflog ich die Überschriften, der Name Merkel tauchte immer öfter zusammen mit dem Wort Krise auf. Finanzkrise, Weltwirtschaftskrise, Immobilienkrise. Dann redeten meine Lehrer ständig darüber. Zur Weltwirtschaftskrise kamen irgendwann der arabische Frühling, Bürgerkriege in Libyen und Syrien, Terror in Europa und die NSU-Morde in Deutschland. Die Ordnung der Welt, so wie ich sie bisher kannte, ribbelte sich auf wie ein Wollpullover, bei dem die Masche fallen gelassen wurde. Ich machte mir außerhalb von der Schule keine Gedanken, keiner verlangte es von mir, zuhause redeten wir darüber kaum. Im Schaufenster der Geschäftsfrau Merkel waren keine Diskussionsangebote, keine kontroversen Ideen für die Zukunft.

Wie jedes Jahr machten wir auch 2009 Sommerferien in Spanien. Meine Großeltern besitzen in der Nähe von Valencia ein Haus. Sie wollten es jetzt verkaufen. Doch dazu kam es nicht, keiner wollte es haben. Die Finanzkrise traf Spaniens Immobilienbranche besonders hart, las ich später im Studium.

An fast jedem Haus hing ein Plastikschild, mal war es blau, mal ganz schlicht weiß, mal sogar schwarz-rot-gold. Auf allen stand: Se vende, zu verkaufen. Auch an dem Haus meines Urlaubs-Freundes Alejandro hing so ein Schild. Alejandro und sein Vater waren oft bei uns zu Besuch. Nachdem wir zusammen Paella gegessen hatten, ging es um Politik. Und um Merkel. Unsere spanischen Freunde waren sauer auf sie, aber eigentlich auf die gesamte deutsche Politik. Sie kannten aber nur Frau Merkel und richteten ihren Zorn auf sie.

Alejandros Vater, ein spanischer Zollbeamter, machte wütend, dass ihm die Regierung das Weihnachtsgeld gestrichen hatte. "Nein", korrigierte er, "das war nicht die spanische Regierung, das war Merkel!" Und dann ging der Streit los, die Fronten verliefen zwischen meiner Familie und den beiden wütenden Spaniern. Mir gefiel das überhaupt nicht. Und nun war auch ich sauer auf die Bundeskanzlerin. Ich machte sie für den Streit verantwortlich.

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"Alternativlos" beruhigt, erstickt aber auch jede gesellschaftliche Diskussion

Ich kam in die Mittelstufe und fing an, mich für Politik und Politiker zu interessieren. Mich beeindruckte Barack Obama. Dieses Charisma! Diese Jugendlichkeit! Diese Coolness! Auf ntv sah ich ihn dann neben der Kanzlerin. Obama war auf Staatsbesuch in Berlin, Merkel zeigte ihm die Regierungsgebäude. Er, der sportliche, dauergrinsende Präsident der Vereinigten Staaten mit Aura und Vision. Daneben die Bundeskanzlerin, bieder, ohne Aura und ohne Vision. Okay, für ihr Aussehen und ihren DDR-Dialekt, der mich unweigerlich an meine strenge Mathelehrerin aus Sachsen erinnert, konnte sie nichts. Aber das mit den fehlenden Visionen nahm ich ihr übel.

Spätestens als wir in der Schule über das Klima geredet haben. Ich habe im Politik-Unterricht ein Referat über die UN-Klimakonferenz in Kopenhagen 2009 gehalten. Mein Referat war in zwei Punkte gegliedert. Erstens: "wie scheiße es unserem Planeten geht". Zweitens: "wie scheißegal das der Politik ist". Den ersten Punkt hatte ich schnell durch. Treibhausgase, Erderwärmung, steigende Meeresspiegel, aussterbende Tiere, und so weiter und so fort. Bei Punkt zwei erklärte ich meinen Mitschülern, dass man sich das Treffen in Kopenhagen hätte sparen können, weil man sich auf nichts für den Klimaschutz hatte einigen können. Die Bundeskanzlerin reiste nach nur einem Tag ab. "Alter, wie unverantwortlich! Es geht um die Zukunft des Planeten. Aber die Merkel kümmert sich einen Dreck darum" - das dachte ich mir.

Doch die Wut über Merkels Desinteresse hielt nicht lange an. Nicht weil ich nicht interessiert gewesen wäre. Sondern weil Merkel in Krisensituationen ihr Handeln als "alternativlos" darstellte. "Alternativlos", das ist ein Wort das beruhigt; aber auch eines, das jede größere gesellschaftliche Diskussion erstickt. Ich konnte mich zurücklehnen, Merkel wird es schon richten. Es gibt ja eh nur eine Lösung und die hat die Bundeskanzlerin. Darauf vertraute ich, auch weil es bequem ist. Oft gestresst (G-8-Abitur) und ständig abgelenkt (Facebook, langsam auch Whatsapp) hatte ich mich mit der Rolle des Zuschauers in der Politik abgefunden. Ich war ganz zufrieden damit, meine Kumpels offensichtlich auch.

Wir haben auch nichts anderes gesehen in der Politik, keine andere Art der Politik gelernt. Wir, die Generation Merkel. Die Kanzlerin hat nicht (oder viel zu selten oder viel zu unbeherzt) in der Öffentlichkeit um Argumente gestritten. Stattdessen zersetzte sie den politischen Diskurs im Säurebad der Technokratie, siehe Euro-Krise. Wir konnten natürlich nicht mitreden, wenn es um Stabilitätsmechanismen und Rettungsfonds ging. Wo wir aber hätten mitreden können, wäre die Frage gewesen, wie wir mit unseren europäischen Nachbarn zusammenleben wollen. Nur, diese Frage wurde nicht gestellt. Merkel liebt schließlich Trippelschritte, das Beantworten konkreter Fragen. Was sie nicht mag sind die großen Sprünge, das Nachdenken über Zukunftsentwürfe, die meine Generation doch so dringend braucht. Auch um wieder mitreden zu können.

Aber: Viele wollen das anscheinend gar nicht mehr. So schreibt eine 19-jährige Erstwählerin in einem Kommentar für Bento, das Jugend-Format von Spiegel Online: "Warum sollte man sich nicht wünschen, dass es (mit Merkels Politik; die Redaktion) so weitergeht? Das macht uns nicht gleich dumm, faul und unmündig - sondern vernünftig. Sicherheit und stabile Verhältnisse sind etwas, nach dem viele Menschen streben".

Nach dieser Bundestagswahl gibt es aber keine stabilen Verhältnisse mehr. Mit der AfD ist eine rechtsradikale Partei mit Neo-Nazis in den Bundestag eingezogen. Wir müssen ihnen die Stirn bieten, in der Diskussion, im Streit um bessere Argumente. Wir müssen uns einbringen, laut werden, uns mit klugen Ideen bewaffnen im Kampf um unsere Demokratie. Merkel hat uns darauf schlecht vorbereitet. Wir müssen es uns selbst beibringen.

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