Bundestagswahl:Schröder! Merkel! Schulz?

Bundestagswahl: Collage aus alten Wahlplaketen: Gerhard Schröder (2005); Angela Merkel (2013) und Martin Schulz (2014)

Collage aus alten Wahlplaketen: Gerhard Schröder (2005); Angela Merkel (2013) und Martin Schulz (2014)

(Foto: dpa (3))

Die Wahljahre 2005 und 2017 zeigen verblüffende Ähnlichkeiten. Und sie legen offen, was dem SPD-Kanzlerkandidaten bislang fehlt. Eine Analyse über Energie, Ausdauer und Anziehungskraft.  

Von Stefan Braun, Berlin

Die Ähnlichkeiten sind frappierend - und sie lassen Hoffnung für beide Seiten. Für Bundeskanzlerin Angela Merkel von der CDU sowieso, aber auch für Martin Schulz, den SPD-Kanzlerkandidaten, der die Hoffnung aktuell sehr viel mehr braucht. Ein Blick auf die Wahljahre 2005 (mit dem Duell Merkel gegen Gerhard Schröder) und 2017 zeigt unzählige Parallelen, das beginnt schon bei den Rahmendaten. Wie in diesem Jahr gab es auch 2005 Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen; wie in diesem Jahr ging die SPD auch damals in beiden Fällen baden.

Die Folgen sind gravierend: Im bundesweiten Trend liegt die Union je nach Umfrage derzeit zwischen zehn und vierzehn Prozent vor den Sozialdemokraten. Wer glaubt, schlimmer könne es für die SPD gar nicht mehr kommen, dem sei ein Blick auf den Juni 2005 empfohlen: damals lag die Union zwischen 20 und 22 Prozent vor den Genossen. Die Schwarzen erschienen wie die sicheren Sieger und die Roten wie längst geschlagene Verlierer. Trotzdem kam es anders: Am Ende, am Abend des 18. September, trennte beide nicht mal mehr ein Prozentpunkt. Was das heißt? Dass Merkel noch nicht gewonnen hat und Schulz noch nicht verloren.

Das freilich ist nicht das einzige Interessante in diesem Wahljahr. Wichtig sind vor allem die frappierenden Ähnlichkeiten zwischen Angela Merkel und Gerhard Schröder. Sie hat wie er eine klare und heftig umstrittene Entscheidung getroffen; bei ihr war es die Flüchtlingspolitik, bei ihm die Agenda 2010. Wie bei ihm kommt auch bei ihr der größte Ärger aus der eigenen Truppe; heute wie damals ist aus dem Widerstand eine neue Partei stark geworden; und heute wie damals schöpfen die, die im Kanzleramt sitzen, eine besondere Kraft daraus, dass sie keine Angst vor einer Niederlage mehr haben. Nach zwölf Jahren Kanzlerschaft ist Angela Merkel Gerhard Schröder erstaunlich ähnlich geworden. Geplant war das sicher nicht. Bei Schröder so wenig wie heute bei Merkel.

23. Juni 2004: Gerhard Schröder sitzt in einer kleinen Regierungsmaschine, will in Stuttgart schwäbische Unternehmen besuchen. Und er kann ein klein wenig Luft holen nach Wochen, in denen die Proteste gegen die Agenda 2010 über ihn hinweggefegt sind. Ein bisschen müde sieht der Kanzler aus. Die "Wahlalternative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit" (WAsG) ist gegründet worden. So etwas zieht und zerrt mächtig an vielen Sozialdemokraten. Trotzdem bleibt der Kanzler unversöhnlich, sobald es um die Agenda geht. Zurücknehmen? Korrigieren? "Die verlangen etwas, was ich nicht tun kann." Hier dürfe nicht die Bevölkerung die Regierungspolitik bestimmen, hier müsse die Regierung für ihre Überzeugungen kämpfen. "Wenn ich so die nächsten Wahlen verlieren sollte, wäre das nicht unehrenhaft."

29. August 2016: Angela Merkel sitzt an ihrem großen Bürotisch. In zwei Tagen jährt sich ihr Satz "Wir schaffen das" in der Flüchtlingskrise. Schon damals waren Hunderttausende ins Land gekommen, seither sind noch einmal viele dazu gekommen. Es wird zu diesem Zeitpunkt von heftigsten Debatten begleitet. Die Regierung scheint überfordert, die AfD erhält mächtigen Zulauf, die CSU spricht von Rechtsbruch und Total-Versagen, und in den eigenen Reihen machen Untergangsszenarien die Runde. Trotzdem sagt die Kanzlerin an diesem Morgen: "Es war richtig, was wir getan haben." Ja, es habe historisch große Versäumnisse gegeben, vor allem vor dem Ausbruch der großen Krise, an der EU-Außengrenze. Aber sie bleibe dabei: "Wir schaffen das" sei die richtige Antwort gewesen. Im Übrigen sei sie ganz sicher: "Deutschland wird Deutschland bleiben."

Eine Entscheidung wie keine vorher, das haben Schröder und Merkel gemeinsam. Beide sind entschlossen und müssen hart dafür kämpfen. In beiden Parteien tobt realer Widerstand; beide müssen schwerste Kritik aushalten und können nicht damit rechnen, dass ihre Leute ihnen noch lange folgen. Und so kommt es bei beiden zu einem Kunstgriff: Sie halten in der Kernfrage am Kurs fest, aber umhegen ihre Leute an anderer Stelle.

Schröder tut das im Frühjahr 2005 mit einer Rhetorik und einem Wahlprogramm, das jenseits der Agenda was fürs Herz, vor allem fürs soziale, bereit hält. Er gibt eine Rentengarantie ab und verspricht, dass es mit ihm in der Gesundheitspolitik keine Kopfpauschale geben werde. Außerdem attackiert er "kalte und rücksichtslose" Wirtschaftspläne der Christdemokraten - und entdeckt im Sommer, dass sich Merkels Finanzexperte Paul Kirchhof als "Professor aus Heidelberg" zum idealen Gegner mausert. Auf seine Agenda aber lässt er nichts kommen, bleibt im Gegenteil standhaft - und erntet auf dem Wahlparteitag großen Beifall.

Schröder konnte sagen: "Hier bin ich und kann nicht anders"

Merkel versucht es ähnlich. Sie stürzt sich auf das Thema Abschiebungen, um allen Ängstlichen und allen Kritikern eine Botschaft zu senden: Dass auch bei dieser Kanzlerin nicht alle Flüchtlinge bleiben dürfen. Gesagt hat sie das schon früher. Aber mit Verve und Vehemenz wird es erst jetzt sichtbar. Das hängt mit einem Thema besonders zusammen: den symbolträchtigen, weil besonders garstigen Abschiebungen nach Afghanistan. Befeuert vom Bundesinnenminister, der diese Abschiebungen trotz aller Bedenken durchzieht, soll deutlich werden, dass auch Angela Merkel hart sein kann, wenn es sein muss.

Ihre Gratwanderung ist aber gefährlich; gefährlicher als bei Gerhard Schröder. Was taktisch geschickt sein mag, kann für sie jederzeit zu einer Schwäche werden, die weh tut. Anders als Schröder muss sie inzwischen umschreiben, dass sie ihre Flüchtlingspolitik gut fand. Schröder konnte sagen: "Hier bin ich und kann nicht anders." Merkel sagt heute: Es war richtig, aber darf sich auf keinen Fall wiederholen.

Das ist eine Botschaft mit angezogener Handbremse und dürfte das erschweren, was manche in ihrem Umfeld für 2017 heimlich erhofft hatten: dass Merkel dieses Mal auch dort Stimmen bekommt, wo sie früher darauf keine Chance hatte - bei Flüchtlingsinitiativen und Künstlern, Schriftstellern, Musikern und sozialen Milieus, die ihre Politik aus tiefstem Herzen mitgetragen haben. Durch die Abschiebungen nach Afghanistan tut sich nun ein Graben auf, der ihr gerade bei diesen Leuten großen Schaden zufügt.

Dem steht bislang ihre größte Stärke entgegen. Wer Merkel in diesen Wochen erlebt, begegnet einer Kanzlerin, die keine Angst mehr hat vor der Niederlage. Anfang März ist sie in Ägypten und Tunesien; die SPD-Begeisterung um Martin Schulz ist auf ihrem Höhepunkt angekommen. Und Merkel spricht auf dem Rückflug sehr gelassen vom neuen spannenden Wettbewerb, der sich auftue. Sie redet davon, dass sie nach zwölf Jahren Regieren durchaus was vorweisen könne. Und sie erzählt, wie sie es gelernt habe, dass manche dieses besser können und andere jenes; jeder müsse halt mit seinen Möglichkeiten zum Wettbewerb antreten.

Andere in der Union werden zu diesem Zeitpunkt Ende Februar, Anfang März von großer Sorge gebeutelt, manche haben schlaflose Nächte, weil Schulz so gut ankommt. Aber wie Merkel da im Flugzeug sitzt und erzählt, wie sie als Jugendliche schweren Herzens lernen musste, dass ihr zum Traumberuf Turnerin oder Tänzerin zu vieles gefehlt habe - da wirkt sie mit sich im Reinen. So wie jener Gerhard Schröder, der im Mai 2005 aufs Ganze geht, Neuwahlen ausruft - und daraus enorme Kraft zieht. Bei sich sein - das hätte ihn fast noch einmal gewinnen lassen. Das nämlich werden beide niemals vergessen: Trotz des Vorsprungs kam es am Ende - wie man im Sport sagt - zu einem Herzschlagfinale.

Womit man noch einmal bei Martin Schulz wäre. Er kann sich jetzt über Monate mit der Frage martern, warum seine guten Werte von Februar und März perdu sind. Oder er kann Schritt für Schritt ein von allen in der SPD abgesegnetes Kompromiss-Wahlprogramm abarbeiten. Oder er kann anfangen zu sagen, warum er unbedingt Kanzler werden möchte. Genau das nämlich ist es, was ihm fehlt: dass die Menschen spüren, was er mit seinen 100 Prozent auf dem SPD-Parteitag denn nun wirklich erreichen möchte.

Schröder und Merkel haben ein Ziel, eine bestimmte Politik, eine Aufgabe für sich erkannt und vertreten. Und sie haben das mit der inneren Überzeugung getan, dass sie richtig liegen. Will Schulz ähnliche Kraft entfalten, muss er das gleiche machen. Es wäre weder einfach noch kostenlos zu haben. Aber es wäre möglich. Zum Beispiel, wenn er mit aller Konsequenz für ein solidarischeres Deutschland innerhalb Europas eintreten würde. Wenn er das Teilen und Kooperieren zu seinem Herzstück deutscher Europa-Politik erklären würde. Wenn er den historischen Moment mit dem Erfolg eines Europäers in Frankreich zum Anlass nähme, sich ein neues historisches Einigungswerk auf die Fahnen zu schreiben. Gegen die Kritik der Union. Gegen diejenigen, die zwar vom gigantischen deutschen Handel mit den EU-Staaten profitieren möchten, aber die Schulden und den Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit in Europa für ein Problem der Anderen halten.

Ein solcher Kurs wäre nicht leicht durchzuhalten. Es gäbe harsche Kritik. Aber es würde dem Politiker Schulz wieder eine Kontur geben. Ein Ziel, das über allen anderen Zielen steht. Einen Fokus, der zu ihm passen würde. So, vielleicht nur so könnte Martin Schulz noch einmal jene Energie entwickeln, die Schröder und Merkel stark gemacht hat und ihm derzeit so abgeht. Als er im Januar antrat, schenkten viele Menschen ihm einen Vertrauensvorschuss, weil sie von dem Gefühl getragen wurden, dass seine Leidenschaft echt ist und sein Herz am rechten Fleck. Verloren ist das noch nicht. Aber es ist verschüttet. Und es liegt jetzt ganz alleine an ihm, es noch einmal freizulegen.

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