Bundestagswahl:"Ich geh mal Kaffeemachen, wa?"

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Da gähnt selbst der Hund: So historisch diese Wahl sein mag, in den Wahllokalen ist davon nichts zu spüren. (Foto: dpa)

Die einen sagen: So gehetzt wurde lange nicht im Wahlkampf. Die anderen sagen: Das war doch entspannt, fast langweilig. Unsere Autoren waren im Wahllokal, um zu schauen, wie Deutschland wählt.

Von Benedikt Peters, Berlin, und Jana Anzlinger

Er ist früh dran an diesem Morgen. Um kurz nach neun kommt Cem Özdemir ins Wahllokal 202 in der Gustav-Meyer-Schule in Berlin Kreuzberg. Vor ihm hat sich eine Wand aus Kameras und Mikrophonen aufgebaut, eifriges Klicken setzt ein. Als er den Wahlhelfern einzeln die Hand gibt, macht einer von ihnen gleich klar, wer hier das Sagen hat: "Ihren Ausweis müssen se mir aber schon zeigen", sagt eine ältere Dame im blauen Wollpullover. Özdemir lächelt, holt seinen Pass hervor und verschwindet in der Wahlkabine.

Die Bundestagswahl läuft an diesem Morgen in Berlin langsam an. Um neun Uhr sind die Straßen noch leer, ein grauer Schleier liegt über der Stadt, wie so oft. Auf den Bürgersteigen im Stadtteil Neukölln weichen Wahlaufrufe der Linken langsam im Nieselregen auf. Die Partei hat hier gestern noch einmal intensiv Straßenwahlkampf gemacht. Auch in den Wahllokalen ist bis zehn Uhr noch nicht viel los. "Ich geh mal Kaffeemachen, wa?", sagt eine Wahlhelferin in der Gustav-Meyer-Schule.

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Von SZ-Autoren

Özdemir ist der Spitzenkandidat, der an diesem Wahltag als erster seine Stimme abgibt. Martin Schulz wählt etwas später am Morgen in seiner Heimatstadt Würselen, die Bundeskanzlerin erst am frühen Nachmittag. Viele andere Spitzenpolitiker haben bereits per Briefwahl abgestimmt, teilen die Parteizentralen mit.

Als Özdemir aus der Wahlkabine kommt, gibt er sich entspannt, fast so, als falle eine Last von ihm ab. Er gehe jetzt erst einmal in Ruhe mit der Familie frühstücken, sagt er - die sei in den letzten Wochen viel zu kurz gekommen. Doch schon einen Moment später bröckelt die souveräne Fassade: Als ihn ein Journalist fragt, ob er mit einem guten Ergebnis für die Grünen rechne, wird Özdemir etwas brüsk. "Ich bin Politiker und kein Demograph."

Die Abstimmung verläuft so skandalfrei wie schon der Wahlkampf zuvor

Viel war im Vorfeld darüber gesprochen worden, dass dies keine Wahl ist wie jede andere. Mit der AfD wird zum ersten Mal seit mehr als 60 Jahren eine Rechtsaußenpartei ins Parlament einziehen. So historisch diese Wende sein mag - auf den Straßen und in den Wahllokalen ist davon kaum etwas zu spüren. Die Abstimmung selbst verläuft so ruhig und skandalfrei wie schon der Wahlkampf zuvor.

Am Vormittag postet ein FAZ-Journalist auf Twitter ein Foto von einem Plakat aus einem Frankfurter Wahllokal. Angeblich wird darauf der AfD-Politiker Alexander Gauland als "rassistischer Hetzer" bezeichnet, genau ist das auf dem Bild nicht zu erkennen. Beim Frankfurter Wahlamt weiß man davon nichts, eine offizielle Beschwerde ist nicht eingegangen, offenbar wird das Plakat nach Protesten abgenommen. Wenn es ein Skandälchen gab, dann hat es sich schnell wieder erledigt.

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit hat diesmal insgesamt 47 Wahlbeobachter nach Deutschland geschickt, so viele wie nie zuvor. Als Misstrauensvotum will man das bei der OSZE aber nicht verstanden wissen, eher als Zeichen dafür, dass die deutsche Demokratie gut funktioniert. Im März hatte die Bundesregierung die OSZE zur Bundestagswahl eingeladen, die daraufhin gleich zwei Delegationen entsandte. Die Leiterin einer der beiden Delegationen ist am Morgen in Berlin unterwegs. Sie spricht mit Wahlhelfern in Berlin und bestätigt den Eindruck, dass alles ruhig und geordnet abläuft. 15 weitere Stimmlokale will sie an diesem Tag noch besuchen.

Deutlich voller als in den Wahllokalen ist es vor dem Bundestag. Das liegt aber nicht an den Wahlen, sondern am Berliner Marathon, dessen Strecke ganz in der Nähe vorbeiführt. In Scharen laufen die Menschen am Paul-Löbe Haus entlang, am Rand stehen die Schaulustigen mit gezückten Handys. "Oh, that's the Reichstag!" sagt eine Frau mit US-amerikanischem Akzent, und macht ein Foto. Die Wahl scheint hier nur wenige Menschen zu interessieren. Im Vorfeld war kritisiert worden, dass der Marathon am gleichen Tag stattfindet. Die Straßensperrungen etwa könnten es den Menschen erschweren, zu den Wahllokalen zu gelangen, hieß es, und manch einer gehe womöglich lieber zur Rennstrecke statt ins Wahllokal.

Niclas und Constanze halten das für Quatsch. Die beiden verfolgen den Marathon am Kottbusser Tor, und klatschen heftig, als die erste Spitzengruppe mit afrikanischen Läufern vorbeihetzt. "Berlin ist eine Event-erprobte Stadt", sagt Niclas, es werde schon alles klappen. Die beiden haben ihre Wahlbenachrichtigungen mitgebracht. Sie wollen noch ein bisschen den Marathon anschauen - und dann ins Wahllokal. "Das lässt sich locker miteinander vereinbaren."

Auch im Rest von Deutschland scheinen Großevents, schlechtes Wetter und andere Unwägbarkeiten keinen großen Einfluss auf die Wahlbeteiligung zu haben. Nach den schlechten Werten der vergangenen Wahlen geht man allgemein davon aus, dass die Wahlbeteiligung 2017 wieder steigen könnte - auch wegen der Emotionalität der Flüchtlingsdebatte. Und zumindest der subjektive Eindruck bestätigt: In den sozialen Netzwerken rufen so viele Freunde privat zur Wahl auf wie nie zuvor. Ihren Tiefpunkt erreichte die Wahlbeteiligung übrigens im Jahr 2009, als nur 70,8 Prozent der Wahlberechtigten an die Urne gingen, 2013 stieg er wieder leicht auf 71,5 Prozent.

Ob sich die Hoffnung der Demoskopen bestätigt, ist gegen Mittag noch unklar: In vielen Städten Bayerns und Baden-Württembergs lag die Beteiligung gegen Mittag höher als zur gleichen Tageszeit vier Jahre zuvor, ähnlich ist es in Hamburg und Dresden. Schlechter sieht es hingegen in den Flächenländern des Nordens aus: Bis 13 Uhr liegt die Wahlbeteiligung in Niedersachsen und Schleswig-Holstein unter dem Niveau von 2013. Auch auf Twitter berichten viele User, dass sie länger in der Schlange standen als noch vor vier Jahren. Gleichzeitig zeigt sich auch noch ein anderer Trend: Noch nie haben so viele Wähler in der Bundesrepublik per Briefwahl abgestimmt.

In München geht manch einer in Tracht ins Wahllokal - oder auf die Wiesn

Der Münchner Marienplatz war einer der Showdown-Orte in diesem Wahlkampf. In dessen Endphase sind hier die Vertreter aller großen Parteien aufgetreten, zuletzt Angela Merkel am Freitagabend. Heute ist von der aufgeheizten Stimmung während ihres Auftritts - Anhänger der AfD und linke Demonstranten protestierten - nichts mehr zu spüren. Am Rathaus hängen Aufrufe, wählen zu gehen. Sonst ist alles wie immer. Es schlendern so viele Spaziergänge und Touristen durch die Münchner Innenstadt wie an jedem sonnigen Sonntagvormittag.

In der zentralen Kaufingerstraße sprechen zwei Touristen einen älteren Herrn in traditioneller Tracht an. Wie sie denn am besten zum Oktoberfest kommen und ob sie da in Alltagskleidung überhaupt rein dürfen? Der Bayer gibt bereitwillig Auskunft - obwohl die beiden dank seines Dialekts nur die Hälfte verstehen. Er erklärt das U-Bahn-System und dass jeder auf der Wiesn willkommen sei. Er hat sich heute morgen nicht für das Fest so feingemacht, sondern um ins Wahllokal zu gehen, "do bin i gloi als erstes hin", sagt er, um dann in die Stadt zum Bauernmarkt weiterzufahren. Auf der Wiesn war er gestern schon: "Sie gloam's ned, wos do gestern beim Schottenhamel los war".

Bier und Musik gibt es in den Wahllokalen zwar nicht, doch ganz so muffig wie man es Wahllokalen gerne nachsagt, sind nicht alle. Das "Jugendinformationszentrum" am Oberanger zum Beispiel hat so gar nichts Amtliches: Überall hängen bunte Poster, es riecht wie in einer Bücherei. Zum ersten Mal ist das Wahllokal des Bezirks hier, "wegen der Barrierefreiheit", erklärt ein sehr junger Wahlhelfer einer verwunderten Bürgerin. Rollstühle und Kinderwägen werden hier nicht durch Stufen behindert. Eine Familie freut sich, dass sie den Kinderwagen nicht tragen muss. "Hinter der Kabine ist genug Platz für Sie", zeigt der Wahlvorstand, "in dem Alter dürfen die Kinder auch noch mit und sehen, wen Sie wählen". Dann verabschiedet er sich für eine Weile - er muss selbst noch wählen, aber in einem anderen der 617 Münchner Wahllokale.

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