Bundestagswahl:Europa schaut auf Deutschland

Germany's Chancellor Merkel briefs the media after an informal European Union leaders summit in Brussels

Regiert sie nach dem 22. September weiter als Kanzlerin? Und wenn ja, mit wem? Angela Merkel, hier auf einer CDU-Veranstaltung in Hannover.

(Foto: REUTERS)

Überaus gespannt sehen auch die Partnerländer in der EU dem Ausgang der Wahl am 22. September entgegen. Sie zweifeln nicht am Sieg von Kanzlerin Merkel, doch sie hoffen auf etwas anderes: Mehr Einfluss der Sozialdemokraten auf die Europapolitik.

Von Cécile Chambraud, Miguel González, Stefano Lepri und Michael White

Deutschland wählt, Europa zittert. Wenn die Bundesbürger am 22. September an die Urnen gehen, entscheiden sie, jedenfalls indirekt, auch über die Zukunft der anderen Europäer mit. Durch EU, Euro und Krise ist Deutschland aufs engste mit seinen Nachbarstaaten verbunden.

Der Wahlausgang in der größten Volkswirtschaft Europas geht alle EU-Bürger etwas an. Ihre Regierungen verbinden sehr unterschiedliche Wünsche mit dem 22. September. Eines aber eint sie: Alle glauben, auch bei künftigen Gipfeltreffen einer Kanzlerin namens Angela Merkel zu begegnen.

Berlins wichtigste Partnerin, die französische Regierung, erwartet nicht, dass sich durch die Bundestagswahl viel verändert. Allerdings hofft sie, die neue Regierung in Berlin werde ihr dabei helfen, die Euro-Skeptiker bei den Europawahlen im kommenden Mai zu besiegen. Paris setzt dabei auf "Dossiers, die sprechen, die Europa verkörpern", wie es in Paris heißt.

Gemeint ist zum Beispiel ein Fonds, der jungen Leuten bei der Arbeitssuche hilft. Die Regierung von Präsident François Hollande glaubt, dass sie in diesen und anderen Fragen bereits einen Modus Vivendi mit der Bundesregierung gefunden hat. Sie stellt sich auf einen neuen Sieg der christdemokratischen Kanzlerin ein.

"Angela Merkel hat sich an einen Präsidenten angepasst, der sich nicht automatisch nach den deutschen Positionen richtet", sagt Thierry Repentin, Beigeordneter Minister für europäische Angelegenheiten. "Es gibt mit Sicherheit mehr Debatten als mit Nicolas Sarkozy. Aber das erlaubt ausgewogene Kompromisse."

Als Beweise für diese Kooperation nennt Paris das Konjunkturprogramm von 2012, die "Zugeständnisse" Berlins beim EU-Haushalt und auch den deutsch-französischen Debattenbeitrag vom 30. Mai "für Wettbewerb und Arbeit in Europa". Dieser sieht für die Euro-Zone einen echten institutionellen Rahmen vor und lässt die Koordination der Wirtschafts- und auch der Sozialpolitik anklingen. "Vor 15 Monaten war es undenkbar, dass sich Deutschland in diesen Punkten bewegt", sagt Repentin.

In den kommenden Monaten will Paris mit Berlin einige Dossiers voranbringen, welche die regierenden französischen Sozialisten dann im Europawahlkampf nutzen möchten. So wollen die Sozialisten jene Wähler, die vom Euro-Skeptizismus erfasst sind oder gar nicht wählen wollen, davon überzeugen, dass sie von Europa nur profitieren können.

Merkel übernimmt Positionen der SPD - das gefällt in Paris

Das gilt insbesondere für die sechs Milliarden Euro, die gegen die Jugendarbeitslosigkeit in den Krisenstaaten eingesetzt werden sollen. François Hollande und Angela Merkel haben rund um diese Initiative einen ersten Auftritt in Berlin am 3. Juli hinter sich gebracht. Eine neue Zusammenkunft ist für den 12. November in Paris geplant.

Aus französischer Sicht trägt es zum Funktionieren des deutsch-französischen Tandems bei, dass die Bundeskanzlerin im Wahlkampf mehrere Positionen der SPD übernommen hat, wie etwa die Forderung nach einem Mindestlohn oder die Mietpreisbremse.

Auch das Lob, das Hollande anlässlich des 150. Geburtstags der SPD vor seinen sozialdemokratischen Kameraden in Leipzig den Reformen von Gerhard Schröder ausgesprochen hat, war der bilateralen Stimmung zuträglich. Ob Angela Merkel nun nach dem 22. September an der Spitze einer großen Koalition stehen wird oder nicht: Die französische Regierung ist überzeugt, dass sie in jedem Fall auf ihre Kosten kommen wird.

In Madrid macht sich niemand Illusionen

In Spanien ist man nicht so optimistisch. Deshalb drückt die konservative Regierung bei der Bundestagswahl ihrem ideologischen Gegner die Daumen, den Sozialdemokraten. Regierungschef Mariano Rajoy hat feststellen müssen, dass ihm die weltanschauliche Übereinstimmung mit Merkel nichts nutzt. Sie hat ihm nicht das geringste bisschen Gnade eingebracht bei dem Sparkurs, den die Eiserne Dame Europas angeordnet hat.

In der Moncloa, Spaniens Regierungssitz, ist man jedoch überzeugt davon, dass Merkel Kanzlerin bleiben wird. Man setzt nun darauf, dass sie die Liberalen als Koalitionspartner durch die Sozialdemokraten ersetzen muss. Davon erhofft man sich eine Aufweichung der ganz harten Linie.

Viele Illusionen macht man sich in Madrid aber nicht. Wenn Hollande schon unfähig war, Merkel zu einem Kurswechsel zu bewegen, werden ihre möglichen künftigen Juniorpartner in Berlin das auch nicht schaffen, befürchtet man. Daher wäre die spanische Regierung schon froh, wenn es nach der Bundestagswahl zu etwas mehr politischer Stimulanz für die Wirtschaft und zu mehr Engagement gegen die Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa käme.

Madrid weiß dabei genau, dass auch die deutschen Sozialdemokraten bestimmte rote Linien nicht überschreiten werden, da deren eigene Wählerschaft dies nicht tolerieren würde. Die Überzeugung, dass deutsche Ersparnisse nicht dazu dienen dürfen, die Verschwendungssucht der südlichen Nachbarn zu bezahlen, ist fest verankert im deutschen Wähler.

Sorge bereitet der Regierung Rajoy, dass Berlin der geplanten europäischen Bankenunion Hindernisse in den Weg legt. Die Feuerprobe erwartet man auf dem EU-Gipfel im Dezember. Dann sollen die letzten Bausteine für die Bankenunion gelegt werden.

Es soll eine Instanz geschaffen werden, welche die Finanzinstitute umstrukturiert. Zudem soll es künftig eine Einlagengarantie geben, die von den Banken selbst bedient wird. Berlin aber will nicht, dass eine Brüsseler Instanz die Nase in die Welt der Sparkassen und Landesbanken steckt und den Deutschen sagt, welche geschlossen werden müssten.

In spanischen Regierungskreisen heißt es, Merkel habe, anders als Helmut Kohl, nie eine europäische Berufung verspürt. Sie brenne auch nicht für ein europäisches Projekt, sondern agiere wie eine Regierungschefin, die auf ihre innenpolitische Agenda fixiert sei.

Die Führung in Europa habe sie nur übernommen, weil sie das wirtschaftliche Gewicht ihres Landes dazu gezwungen habe. In Madrid fragt man sich, ob sie in ihrer dritten Amtszeit etwas mehr an die europäischen Bürger denken wird als an die deutschen Wähler, von denen sie abhängt.

Rom sieht neue Spielräume - wenn Schwarz-Rot regiert

Auch in Rom mischen sich Hoffnung und Skepsis, und auch dabei geht es unter anderem um die Bankenunion. Unter italienischen Politikern wird jedoch vor allem spekuliert, nach der Wahl am 22. September könnten die europäischen Haushaltsregeln gelockert werden. Da ist zu hören, Angela Merkel habe sich bisher hartherzig gezeigt, um nicht die Stimmen jener Wähler zu verlieren, die feindselig gegenüber den schwachen Euro-Ländern eingestellt sind. Wenn sie erst einmal wiedergewählt sei, werde sich die Kanzlerin geschmeidiger zeigen.

In Wirklichkeit sind die Regeln des Fiskalpakts bereits erheblich gelockert worden. Das gilt auch für Italien. Allenfalls dann, wenn die Anti-Euro-Partei AfD scheitert und es in Deutschland zudem zu einer großen Koalition aus Union und SPD kommt, könnte sich ein neuer Spielraum öffnen.

Realistischer und im gemeinsamen europäischen Interesse ist dagegen das Ziel, das sich Premier Enrico Letta für die italienische EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2014 setzt: Er will einen Durchbruch beim Aufbau einer echten europäischen Bankenunion schaffen, die ja auch den Spaniern sehr am Herzen liegt. Diese ist, so findet man in Rom, von entscheidender Bedeutung. Die Instabilität der Euro-Zone wurde - Griechenland einmal beiseitegelassen - mehr von privaten Kapitalflüssen als von Schuldenexzessen der Staaten hervorgerufen.

Um ein Beispiel zu nennen: Nur wenn in Zukunft dank der Bankenunion die spanischen Geldhäuser als genauso sicher gelten wie die österreichischen, werden die Verzerrungen verschwinden, welche die Wirtschaft in den schwachen Ländern entmutigen und zugleich die Zinssätze in den als sicher geltenden Ländern zu stark drücken.

Deutschland braucht Großbritanniens Verbleib in der EU

Umfragen zeigen, dass 83 Prozent der deutschen Wähler eine europäische Bankenunion befürworten. Der Durchschnittsdeutsche ist der Ansicht, dass die Kreditinstitute der anfälligen Staaten sicherer werden, wenn sie einer europäischen Aufsicht unterstellt werden.

Den deutschen Führungskräften behagt eine Bankenunion dagegen nicht. Denn es gibt zu viele Verbindungen zwischen dem zersplitterten Bankensystem und Politikern auf lokaler Ebene. Man will nicht, dass dies von außen durchleuchtet wird. Gegenüber den Wählern wird der Widerstand gegen die Bankenunion mit der Gefahr gerechtfertigt, eine gemeinsame Aufsicht werde dazu führen, dass der deutsche Steuerzahler für die Sünden ausländischer Bankiers bezahlen müsse.

Die britischen Politiker treiben mit Blick auf die Bundestagswahl andere Gedanken um. Sie wissen: Wer auch immer die Macht in Berlin gewinnt, der neue Kanzler wird sich nicht verbiegen, um Premier David Cameron und seine blau-orange Koalition mit der britischen Version der FDP zu retten. Zwar werden die britischen Liberaldemokraten in Nick Clegg von einem leidenschaftlichen, mehrsprachigen Befürworter der EU angeführt.

Aber Clegg scheint machtlos in der EU-Politik zu sein, die zu einem ausgewiesenen Wildgehege geworden ist, in dem die Tory-Rechte mit rohem Fleisch gefüttert wird. So war es Cameron, der die Konservativen 2009 aus der Fraktion der Europäischen Volkspartei im Europa-Parlament geführt hat - ein Schritt in die Isolation, der die Tories von einem weiteren zentralen und machtvollen Netzwerk in der EU abgeschnitten hat.

Dennoch braucht Deutschland Großbritanniens Verbleib in der EU. Die Briten dienen Berlin als Gegengewicht zu Frankreich, als nordeuropäischer Staat, der sich für den Sparkurs einsetzt und eine globale Handelsperspektive einnimmt. Umgekehrt wissen Briten aus allen Parteien, die von der Idee, Europa zu verlassen, nicht viel halten, dass sie Deutschland brauchen. Denn Berlin ist Europas wirtschaftliches Machtzentrum, der Zahlmeister und politische Rettungsanker in der Wirtschaftskrise, die immer noch die verschuldete Südflanke der Euro-Zone bedroht.

Natürlich würde Oppositionsführer und Labour-Chef Ed Miliband gern Frau Merkels SPD-Herausforderer Peer Steinbrück als Sieger am 22. September sehen. Bei den Themen höhere Steuern für Reiche, bessere Löhne für Arme und vielen anderen Fragen sind Labour und die SPD Seelenverwandte.

Geschäft bleibt Geschäft

Eine rot-grüne Regierung könnte eine Hilfe sein für Labour, um 2015 wieder an die Macht zu gelangen. Labour-Realisten ahnen jedoch: Da sich die wirtschaftliche Lage in der Euro-Zone endlich erholt, ist das Schlimmste, was Merkel bevorsteht, eine große Koalition mit der SPD. Die Briten selbst würden eine solche große Koalition für ihr Land freilich noch mehr als ihre derzeitige Lib-Con-Koalition hassen.

Wie wird Merkel gegenüber Cameron agieren, falls sie eine dritte Amtszeit gewinnt? Persönlich scheint die Kanzlerin den Premier und dessen junge Familie zu mögen. Cameron erwidert dies. Er nennt Merkel "eine phänomenale politische Anführerin". Freundschaft erleichtert die Dinge.

Aber Geschäft bleibt Geschäft. Merkel hat im August zwar öffentlich davon gesprochen, Macht von Brüssel an die EU-Mitgliedsstaaten zurückzuübertragen. Aber dabei geht es ihr vor allem darum, die Budgetkosten zu senken und das Geld effizienter einzusetzen. Weiter gehende Schritte, wie sie Cameron und viele Briten wünschen, hat sie eher nicht im Sinn.

Wie auch immer die Bundestagswahl am 22. September ausgehen wird: Die europäischen Partner stellen sich darauf ein, dass sich die deutsche EU- und Euro-Politik nicht fundamental ändern wird. Das Ringen um den richtigen Rettungskurs für das europäische Haus wird damit in die nächste Runde gehen.

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