Bundestagspräsident Norbert Lammert:"Die Zeit der langen Reden ist vorbei"

Bundestagspräsident Norbert Lammert

Bundestagspräsident Norbert Lammert (Archivbild)

(Foto: dpa)

Bundestagspräsident Lammert im SZ-Gespräch über Tweets, Debattenkultur, politische Rhetorik - und ein paar Änderungsvorschlägen fürs Parlament. Etwa den, auf die Begrüßung der Verwandtschaft zu verzichten.

Von Roman Deininger

Gerade haben die Bundestagsabgeordneten eine bemerkenswerte Debatte zum Thema Sterbehilfe geführt, eine ernsthafte und zugleich berührende Diskussion, wie sie Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) gern öfter sehen würde. Seit 1980 ist der Soziologe Lammert, 65, Abgeordneter. Seit 2005 steht er dem Parlament als Präsident vor, und seitdem ist ihm an einer Belebung der Debattenkultur im Hohen Haus gelegen. Der Bochumer Lammert gilt als guter Redner, das hat er vielen seiner Abgeordnetenkollegen voraus.

Im Interview spricht er über den Zustand der politischen Rhetorik in Deutschland, über kulturelle Unterschiede zu den emotionalen Reden amerikanischer Präsidenten und über den kontroversen Auftritt des Liedermachers Wolf Biermann in der Mauerfall-Feierstunde.

SZ.de: Herr Lammert, ist die Zeit der großen Reden vorbei?

Nein, aber wir haben heute eine andere politische Rhetorik als in den 50er oder 60er Jahren. Wir haben aber auch eine völlig andere mediale Umgebung, in einer gründlich veränderten Gesellschaft. Insofern ist zumindest die Zeit der langen Reden vorbei. Es gibt auch weniger Polemik. Redner wie ein Wehner oder ein Strauß würden ins Heute kaum mehr passen.

Hadern Sie manchmal mit der Kürze, die viele Leute von Politiker-Mitteilungen erwarten?

Ich erkenne schon auch die Möglichkeiten etwa der sozialen Netzwerke im Internet. Aber ich stelle fest, dass die heute präferierten Kommunikationsmedien leider oft den Komplexitätsansprüchen der relevanten Themen nicht genügen. Der Energiewende oder dem Fiskalpakt kann man nicht in Tweets mit 140 Anschlägen gerecht werden.

Manche sagen, es fehlten einfach die großen Themen für große Reden.

Natürlich hatten die mitreißenden, polarisierenden, identifikationsstiftenden Reden früher ganz wesentlich mit den großen Streitfragen zu tun, die sie behandelten: Soziale Marktwirtwirtschaft, Wehrpflicht, Nato-Beitritt, Notstandsgesetzgebung, die Römischen Verträge, die Einführung des Euro. Alle Fragen dieses Ranges sind heute entschieden. Aktuell gehört nach meinem Verständnis auch die Sonderdebatte zur Sterbehilfe in dieser Woche zu den bedeutenden Debatten.

Da könnten wir von den USA lernen. Könnte sich die Kanzlerin nicht regelmäßig in einer Rede direkt an die Bürger wenden, so wie der amerikanische Präsident das regelmäßig tut?

Das hat bei uns keine Tradition. Es gibt Unterschiede in der Kommunikationskultur zwischen Deutschland, England, Frankreich oder den USA. Man kann nicht einfach etwas importieren. Ich fürchte, eine TV-Rede der Kanzlerin am Samstagabend würde es gegen die Sportschau schwer haben.

Aber die Deutschen sind schon empfänglich für gute Reden. Barack Obama hat 2008 im US-Wahlkampf 200 000 Berliner an die Siegessäule gelockt.

Ja, ich erinnere mich lebhaft an die reflexhaft begeisterte Zustimmung, die Barack Obama in Deutschland erzielte, bevor er Präsident wurde. Hätte es die Möglichkeit gegeben, hätten die Deutschen Obama 2008 mit riesiger Mehrheit gewählt. Und jetzt nehme ich die Ernüchterung wahr, die nach erfolgter Wahl sowohl in den USA als auch in den Partnerländern eintrat. Da wird die imaginäre Grenze zwischen dem Auftritt eines Politikers und den Alltagsanforderungen an ihn deutlich.

Glauben Sie nicht, dass ein bisschen mehr Gefühl den politischen Reden in Deutschland gut täte?

Natürlich gewinnt ein Redebeitrag an Wirkung und Authentizität, wenn er aus persönlicher, plausibler Erfahrung und Betroffenheit kommt. Wir neigen in Deutschland zu einer sehr nüchternen Betrachtung von Sachverhalten, das ist sicher eine Hürde, um ein breites Publikum zu erreichen. Andererseits sollte die persönliche Perspektive nicht den Sachverhalt verdrängen.

In diese Gefahr begibt sich die Bundeskanzlerin ja eher nicht.

Und hat vielleicht gerade deshalb sich eine außerordentlich große Vertrauensbasis erarbeitet.

Wie Bundestagssitzungen attraktiver werden könnten

Bekommen Bundestagsdebatten zu wenig Aufmerksamkeit in den Medien?

Ich bin mit der medialen Begleitung der Politik nicht immer zufrieden. Sport, wie Unterhaltung genießen im Fernsehen Denkmalschutz, da wird die eingeplante Sendezeit notfalls beliebig überzogen, während auch öffentlich-rechtliche Fernsehanstalten selbst Staatsoberhäuptern gelegentlich Bild- und Ton abschneiden.

Was kann der Bundestag selbst tun, um seine Sitzungen für Zuschauer attraktiver zu machen?

Ich werbe seit langem für eine Belebung der Debattenkultur. Es wird zu oft nicht debattiert, sondern es werden Reden gehalten - und oft abgelesen. Vielleicht wäre die Diskussion lebendiger, wenn die Abgeordneten nicht nach vorn zum Pult gehen müssten, sondern am Platz sprechen könnten. Der Bundestag muss ein Debattenforum sein, ein Ort der inhaltlichen Auseinandersetzung. Und zugleich kann er gelegentlich auch Schauplatz großer Reden sein.

Sie bemühen sich selbst ja gern mal um das eine oder andere grundsätzliche Wort, vor allem zu historischen Daten.

Wenn wir etwa zu historischen Jahrestagen Gastredner im Plenum haben, wie zum Beispiel Navid Kermani zu "65 Jahre Grundgesetz" oder den polnischen Staatspräsidenten zum Ausbruch des 2. Weltkrieges vor 75 Jahren, dann ist auch die Diplomatentribüne voll. Von vielen Diplomaten höre ich, dass sie gerade diese intensive Beschäftigung mit der eigenen Geschichte an Deutschland schätzen. Dass bei uns Raum ist für die großen Zusammenhänge.

Und auch mal Raum für einen kontroversen Auftritt wie den des Liedermachers Wolf Biermann bei der Feier zum 25. Jahrestag des Mauerfalls.

Die erstaunliche Resonanz seines Auftritts mit begeisterter Zustimmung wie empörter Kritik verdeutlicht, wie sehr dieses historische Ereignis und seine Vorgeschichte Beteiligte und Betroffene bis heute emotional bewegt.

Was wünschen Sie sich von Ihren Kollegen im Bundestag?

Zu oft folgen bei uns Reden einem alten, ermüdenden Schema: Lange Einleitung, kurzer Mittelteil mit Argumenten, dazwischen Beschimpfungen der Konkurrenz, schließlich die Ermahnung durch den Präsidenten, bitte zum Ende zu kommen. 'Noch ein wichtiger Punkt', rufen die Kollegen dann. Und ich frage mich, ob sie den wichtigen Punkt künftig nicht einfach an den Anfang stellen könnten. Statt der Begrüßung der Verwandtschaft.

Einen großen Essay über die politische Rhetorik in Deutschland lesen Sie am Wochenende im Gesellschaftsteil der Süddeutschen Zeitung oder in der digitalen Ausgabe auf dem Smartphone oder Tablet.

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