Bundestag:Ja, es gibt Obergrenzen - für giftige Debatten

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Und wieder muss Kanzlerin Merkel ihren Kurs in der Flüchtlingspolitik verteidigen - diesmal in der Generaldebatte im Bundestag. (Foto: dpa)

Bundeskanzlerin Merkel mahnt im Bundestag, verbal abzurüsten. Vielleicht war das der Einstieg in die Diskussionen, die endlich geführt werden müssen.

Kommentar von Heribert Prantl

Der Bundestag hätte über Integration reden können, sollen, müssen. Er hätte darüber reden können, sollen und müssen, was gut angepackt und geschafft worden ist binnen eines Jahres und was noch nicht. Die Integration von Hunderttausenden Flüchtlingen ist ja keine Einjahresaufgabe; es ist die Aufgabe von Dekaden; das weiß die Kanzlerin, das wissen ihre Gegner. Man hätte also in der Generaldebatte darüber reden sollen, wie man das alles schafft, was noch alles geschafft werden muss; es ist unendlich viel.

Man hätte also, zum Beispiel, darüber reden müssen, dass es viel zu viele Kinder und Jugendliche gibt, die nun seit einem knappen Jahr in Deutschland leben, aber bisher keine Schule von innen gesehen haben - und wie man das schnellstens ändert. Man hätte eine erste Bilanz ziehen können darüber, was alles passiert ist, seitdem vor genau einem Jahr auf den ersten Seiten der großen Zeitungen solche Schlagzeilen erschienen: "Nothelfer Deutschland" und "Gigantische Hilfsbereitschaft".

Es ist unendlich viel passiert. Dass in dieser Zeit die AfD gewachsen ist, ist ein wichtiges, aber nicht das wichtigste Ereignis. Die Bundestagsdebatte konzentrierte sich sehr auf den Erfolg dieser Partei und was dagegen getan werden kann; das ist verständlich, aber nicht behilflich. Es geht nicht um die richtige Taktik gegenüber der AfD; es geht um die richtigen Strategien beim Anpacken gesellschaftlicher Großprobleme. Das funktioniert nur im gemeinsamen Ringen. Die Kanzlerin hat daher an ihre Koalitionäre und die Parteien des Bundestags appelliert, verbal abzurüsten. Vielleicht war das der Einstieg in die Debatte, die wirklich notwendig ist.

Schämen muss man sich nicht für die Aufnahme von Menschen in Not

Notwendig ist nicht eine Debatte über Obergrenzen; die ist Teil eines Wettlaufs der Radikalität und Schäbigkeit. Einen solchen Wettlauf kann auch die CSU nicht gewinnen. Die Nachrichten am Tag der Generaldebatte haben das vorgeführt: Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) hat gefordert, eine Obergrenze von 200 000 Flüchtlingen pro Jahr zu beschließen. Die AfD hat dazu erklärt, über eine Obergrenze, die "bei 100 läge" (in Worten: hundert) könne man reden. Diese Obergrenzen-Diskussion ist eine Diskussion abseits des Rechts und abseits humanitärer Praktikabilität. Es sollte eine Obergrenze für solche Diskussionen geben.

Es wird erbittert über "die Flüchtlingspolitik" gestritten; die CSU fordert eine "Kehrtwende". Die Flüchtlingspolitik gibt es freilich nicht, es gibt heute sehr divergierende Politiken; eine scharfe Flüchtlingsabwehrpolitik, die von der Kanzlerin mitgetragen wird; und eine unzulängliche, sich mühsam entwickelnde Integrationspolitik.

Im Bundestag wurde um das Wort "Willkommenskultur", das vor einem Jahr in aller Munde war, ein Bogen geschlagen. Man mag ja der Meinung sein, dass "Schutzkultur" ein besseres Wort gewesen wäre. Aber schämen muss man sich nicht dafür, dass Menschen in Not aufgenommen wurden. Es darf, so groß die Probleme sind, auch ein wenig Stolz sein. Das hilft bei der Bewältigung der Probleme.

© SZ vom 08.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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