Bundestag:Die Optimisten

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Von wegen Politikverdrossenheit: Wie zwei Abgeordnete ihre ersten vier Jahre im Bundestag erlebt haben - und warum das wahre Leben für sie nicht in Berlin, sondern im Wahlkreis spielt.

Von Joachim Käppner

Für Bernd Rützel haben die Osterferien mit einem Besuch beim Schuster daheim im Wahlkreis Main-Spessart angefangen. Der Mann hat ihn gleich gefragt, was diese Abgeordneten denn den ganzen Tag so machen im fernen Berlin. Wenn die im Fernsehen den Bundestag zeigen, dann seien die meisten Sessel leer. Weil Rützel den Schuster schätzt und der es ehrlich wissen wollte, gab er ihm eine ehrliche Antwort - und ersparte ihm die kleine Boshaftigkeit, die er in anderen Fällen manchmal auf diese Frage erwidert. Er hätte dann gesagt: "Also, weil Sie es sind, verrate ich es: In Berlin liegen wir meistens am Wannsee, bestellen uns was Schönes und diskutieren, wer die beste Liege bekommt. Freitagfrüh geht es dann zurück nach Hause. Aber das müssen Sie für sich behalten."

Alexander Hoffmann hat zu Ferienbeginn gleich morgens einen Besucher im Wahlkreisbüro in Marktheidenfeld, einen älteren, elegant gekleideten und eloquenten Herrn. Er ist gekommen, um dem Abgeordneten eine Spende zu geben sowie einen Rat für den Wahlkampf, ja fürs weitere Leben: "Bolitik derff gän Spass mache!", ruft er in schönem Mainfränkisch. Was soll Hoffmann da sagen? Ihm macht Politik eine Menge Spaß. Nein, widerspricht der Gast, der im bayerischen Spielbankenwesen tätig ist, Politik habe mit Verantwortung zu tun und nicht mit Freude. Nun ja, sagt Hoffmann aufs Freundlichste, "das muss sich ja nicht ausschließen." Ihm machen schon solche Debatten mit den Bürgern Spaß (und die Spende, um Missverständnissen vorzubeugen, gilt einem Projekt gegen Genitalverstümmelung in Ostafrika; das Wahlkreisbüro leitet sie nur an die Empfänger weiter).

Sozialdemokrat Bernd Rützel (links neben Martin Schulz). (Foto: Bernd Hartung / Agentur Focus)

Bernd Rützel, 48, aus Gemünden am Main ist Eisenbahner und ein großer, kräftiger Typ. Er hat es nach der Hauptschule bis zum Fachhochschulabschluss und zum technischen Leiter bei der Bahn gebracht - und über die Ochsentour durch die Partei in den Bundestag, SPD alter Schule. Alexander Hoffmann ist 42 Jahre alt, drahtig, ein Quereinsteiger aus Chefposten der Kommunalverwaltung und Platzhirsch der CSU hier in Bayerns Nordwesten. Die SZ hat beide 2013, als sie Novizen waren, durch den Bundestagswahlkampf begleitet; beide zogen ins Parlament ein, Hoffmann als Direktkandidat, Rützel über die SPD-Landesliste. Diese Konstellation ist ungewöhnlich: zwei Neulinge aus dem selben Wahlkreis. Was haben sie erlebt in so aufgewühlten vier Jahren, samt Flüchtlingsdebatte, Fake News, AfD, Hass im Netz? Nach Brexit und Trump? Mit all der Politikverdrossenheit?

Hoffmann lehnt sich zurück: "Welcher Politikverdrossenheit?" Er spüre wenig davon, eher im Gegenteil. In diesen ersten vier Berliner Jahren war das Feedback zu Hause noch intensiver, als er erwartet hatte; er gilt jetzt als "Unser Mann in Berlin", und wenn die Leute etwas erklärt haben wollen aus der großen Politik, fragen sie ihn. Weder Rützel noch Hoffmann sind nach vier Jahren ernüchtert oder desillusioniert über den großen Politikbetrieb, zu dessen kleineren Rädern sie jetzt gehören. "Wir sehen, wie Demokratie funktioniert - und dass sie funktioniert", sagt Bernd Rützel. Hoffmann macht sich "Sorgen um Europa, sicherlich, aber nicht um die deutsche Demokratie - die Leute hier nehmen so viel Anteil". Das ist für beide eine Quintessenz aus vier Jahren Bundestag.

Man braucht aber Geduld, manchmal viel davon. In Rützels Gemündener Wahlkreisbüro erschienen 2015, als die vielen Flüchtlinge kamen, zwei ältere Damen und fragten, was der Abgeordnete gegen folgenden Skandal zu tun beabsichtige: Die Tochter der einen habe eine Freundin, die gehört habe, Gemündens Kindergärten nähmen nur noch syrische Kinder auf. Rützel fragte nach, so hält er es auch mit bösen oder vorwurfsvollen E-Mails, dann schrieb er zurück: "Woran machen Sie Ihre Kritik fest? Wer hat das gesagt? Wie sind die Fakten?" Meistens hört er dann nichts mehr. Er werde sich darum kümmern, sagte er auch den beiden Frauen.

Natürlich war alles nur ein Gerücht, es gab 50 freie Plätze und niemals einen Aufnahmestopp für deutsche Kinder. Aber die Leute glauben heute solchen Stuss, so Rützel: "Die Bereitschaft ist da, sich ganz schnell zu empören" - der Abgeordnete muss dann versuchen, mit den Menschen über deren Ängste zu reden. Meistens klappt das. Die Mühen der Ebene.

Im Wahlkampf 2017 geht es hier zu wie vor vier Jahren, nämlich zivil. Rützel und Hoffmann sind keine Freunde übertriebener Zurückhaltung, sie zoffen sich in der Sache, aber nicht persönlich. Vielleicht hilft ihnen die Heimatverbundenheit sogar, oft mehr das Gemeinsame als das Trennende zu betonen. "Je mehr politisches Gewicht man hat, desto besser", sagt Hoffmann nüchtern; zusammen mit Rützel setzt er sich für den Bau der Entlastungsstraße B 26n ein, gemeinsam mit allen beteiligten Bürgermeistern haben sie die Sache im Ministerium vorgestellt. Beide bekamen in der Heimat einen Sturm der Entrüstung mit ab, als die Strecken für die neuen Stromtrassen bekannt wurden, eine lief mitten durch den Sinngrund, eine alte, natürliche Auenlandschaft. Die Volksvertreter erlebten ein zorniges Volk, das Schilder aufstellte wie "Keine Monstertrassen!" Sie haben es dann in Berlin mit hinbekommen, dass die Leitungen unter die Erde verlegt werden. "Man muss die Leute ernst nehmen", sagt Rützel.

CSU-Rivale Alexander Hoffmann (mit Besuchern in Berlin), Wahlkreis Main-Spessart. (Foto: oh)

Natürlich gibt es Unterschiede. Hoffmann setzt in der Asylfrage auf eine harte Linie; setze man das Recht konsequent durch, werde sich eine rechte Protestpartei wie die AfD "nicht auf Dauer festsetzen". Rützel rühmt lieber das Engagement vieler Bürger in der Region für die Asylbewerber.

Und dann ist da die soziale Frage, die SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz in den Mittelpunkt seines Wahlkampfes rückt. Teile des Wahlkreises Main-Spessart waren vor 100 Jahren noch ein deutsches Armenhaus, in dem der Hundefänger umging; heute hat es der Erneuerer Rützel hier schwerer als der Bewahrer Hoffmann. Es ist nicht ganz einfach, einer Region Wege aus der Not zu weisen, in der diese Not nicht so richtig zu Hause ist und die eine der geringsten Arbeitslosenquoten der Republik hat. Gleich südlich von Gemünden liegt Karlstadt, blühende Provinz, durch die am Karsonntag eine vielköpfige Prozession mit Weihrauch und Gesängen zieht; es gibt Industrie, Feinmechanik, Reben, Fremdenverkehr und gefühlt mehr Weinstuben und Restaurants als in der halben Uckermark, dazu eine prächtige Altstadt am Main mit Stadtmauer und roten Ziegeldächern, alles überragt von der Stauferburg auf dem Felsen über dem Fluss. In Karlstadt, sagt ein örtlicher Unternehmer, der einen Fahrer suchte, sei das so mit dem Arbeitsmarkt: "Du findest den Fahrer nicht - oder nur mit viel Glück. Hier suchen die Leute nicht Jobs, die Firmen suchen Leute." Die Agentur für Arbeit hat ihm in zwölf Monaten nur einen einzigen Bewerber geschickt, der konnte aber leider nicht fahren.

Dennoch, sagt Sozialdemokrat Rützel, gebe es hier am Main nicht nur Sonne und Wein, sondern auch prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Arbeitnehmer, die neben dem Job noch ihre Eltern pflegen müssen, Familien, denen das Geld nicht zum Leben reicht - "das sind alles sozialdemokratische Themen."

Berlin hat beide verändert, das bleibt nicht aus. Rützel hat 20 Reden im Bundestag gehalten, zu Fragen des Arbeitsmarkts und der Mitbestimmung, war mit einer Parlamentariergruppe zum Frühstück bei Barack Obama und diskutiert mit Martin Schulz. Der Streit um den Mindestlohn 2013 "war meine Feuertaufe", die er mit der SPD siegreich bestand. Hoffmann hat mit der Kanzlerin geplaudert, sich für TTIP engagiert ("kein Chlorhühnchen, sondern Zankapfel") und als Mitglied der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe die große Politik mitgestaltet.

Beide müssen lächeln, fragt man sie nach der These der Neunziger, das Erlebnis der Großstadt werde aus dem behäbigen Bonner Staat eine Berliner Zukunftsrepublik machen. Ein Abgeordneter hat oft einen 14-Stunden-Tag. Hoffmann joggt jeden Morgen am Kanal und holt sich abends mal in Moabit einen Döner beim Türken; viel mehr sieht er nicht von der großen Stadt. Rützel nutzt den frühen Morgen, um Englisch zu lernen. Das wahre Leben spielt im Wahlkreis, nach wie vor, dort warten am Wochenende Termine wie die halbtägige Versammlung des Kreisfeuerwehrverbandes, Beginn 8 Uhr 3o.

Was hat sie am meisten überrascht, da draußen in Berlin? Rützel lacht. Nicht so viel, sagt er; aber wenn er ganz früh morgens unterwegs ist, sieht er beim Reichstag manchmal Füchse, wie daheim. Hoffmann war überrascht, als ihn ein alter Parteifreund im Marktheidenfelder Baumarkt ansprach: Was er denn hier mache? Für was er denn Werkzeug brauche? "Er dachte, für solche Sachen hat ein Abgeordneter seine Leute, die ihm zu Hause den Garten herrichten", sagt Hoffmann. "Mensch", hat er geantwortet, "ich bin immer noch der Alex."

© SZ vom 15.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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