Bundestag:Der Genozid an den Armeniern geht die ganze Welt etwas an

Bundestag

Mitglieder der Armenier-Initiative 'Anerkennung Jetzt' halten im Bundestag nach der Abstimmung über die Armenien-Resolution Schilder mit dem Schriftzug 'Danke' hoch.

(Foto: dpa)

Die gesamte Menschheit hat ein Interesse daran, dass Völkermorde nicht verdrängt und relativiert, sondern aufgearbeitet werden. Dazu trägt der Bundestag mit seiner Armenien-Resolution bei.

Kommentar von Stefan Ulrich

Der Bundestag hat gesprochen, und nicht nur der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist empört. Auch viele seiner Landsleute finden es verstörend, dass die deutschen Abgeordneten über türkische Geschichte zu Gericht sitzen und die mehr als hundert Jahre zurückliegenden Verbrechen an den Armeniern apodiktisch als Völkermord bewerten.

Ist es Aufgabe eines Parlaments, darüber zu bestimmen, was die geschichtliche Wahrheit ist? Und soll sich ein Land derart in die Angelegenheiten eines anderen Landes einmischen dürfen? Es ist verständlich, dass die Türkei jetzt diese Fragen stellt. Und es ist psychologisch nachvollziehbar, wenn sich die Regierung in Ankara in ihrem Nationalstolz getroffen fühlt und zurückschlägt, indem sie ihren Botschafter aus Berlin heimbestellt.

Dennoch ist es richtig, dass der Bundestag die Massenvertreibungen und Massaker an den Armeniern endlich als das bezeichnet, was sie nach dem Maßstab der Genozid-Konvention der Vereinten Nationen waren: ein Völkermord. Das völkerrechtliche Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates steht dem nicht entgegen.

Dies folgt schon daraus, dass die Türkei offizieller Beitrittskandidat der Europäischen Union ist und in Verhandlungen mit Brüssel steht. Die europäische Einigung ist aber auch deshalb eingeleitet worden, um nationalistischen Exzessen vorzubeugen und Genozide unmöglich zu machen. Die Achtung vor und der Schutz von Minderheiten gehören zu den wichtigsten Voraussetzungen für eine EU-Mitgliedschaft.

Wer, wie die Türkei, einen Völkermord an einer solchen Minderheit verdrängt und leugnet, verletzt deren Ehre und erhöht die Gefahr, dass es künftig wieder zu ähnlichen Verbrechen kommt. Es ist Recht und Pflicht aller EU-Staaten, ein mögliches künftiges Mitglied nachdrücklich darauf hinzuweisen. Genauso wie alle EU-Staaten darauf pochen müssen, dass das Mitglied Polen am Rechtsstaat festhält.

Die Welt besteht nicht aus in sich selbst abgeschlossenen Staaten

Doch was gälte, wenn die Türkei in Wahrheit der Union fernbleiben wollte? Wäre es dann allein ihre Sache, wie die Verbrechen an den Armeniern zu bewerten sind? Immerhin geht das Prinzip der Nichteinmischung bis auf den Westfälischen Frieden zurück, der den Dreißigjährigen Krieg beendete. Auch die Vereinten Nationen bauen darauf auf. Gemäß deren Charta sind alle Staaten souverän und gleich. Keiner soll gegenüber dem anderen zu Gericht sitzen. In der Praxis ist dieses Prinzip schon oft gebrochen worden. Doch auch als Ideal und Rechtsnorm ist die Nichteinmischung fragwürdig geworden.

Die Welt besteht nicht (mehr) aus in sich selbst abgeschlossenen Staaten, die wie die Monaden des Gottfried Wilhelm Leibniz nebeneinander herleben. Tatsächlich sind die Staaten vielfach miteinander verwoben. Sie haben gemeinsame Organisationen und Regeln geschaffen, unterliegen dem Völkerrecht und beeinflussen sich gegenseitig politisch, wirtschaftlich, kulturell. Deswegen kann es ein Land sehr wohl etwas angehen, was in einem anderen vorgeht.

Das Prinzip der Nichteinmischung muss also durch ein Prinzip der Einmischung ergänzt werden für Fälle, in denen dies durch einen besonderen Grund gerechtfertigt ist. Die Ächtung von Völkermord ist ein solcher. Ein Genozid ist ein derart monströses Verbrechen mit derart katastrophalen Folgen, dass er nicht nur Täter und Opfer, sondern die ganze Welt etwas angeht. Er ist ein Menschheitsverbrechen.

Die gesamte Menschheit hat daher ein Interesse, dass Völkermorde nicht verdrängt und relativiert, sondern aufgearbeitet werden. Dazu trägt der Bundestag - in verhältnismäßiger Weise - bei, indem er das furchtbare Schicksal der Armenier bezeugt und so verhindert, dass auch noch die Erinnerung getötet wird.

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