Wulff kritisiert EZB und Politik:Präsident Klein-Klein

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Christian Wulff hat in seiner Rede ein Unwohlsein aufgegriffen, das Millionen Bundesbürger in den vergangenen Monaten beschlichen hat: Dass da nämlich etwas grundsätzlich schieflaufen könnte in Europa. Großen Eindruck bei der Bundesregierung hat das aber nicht hinterlassen. Denn eine Vision hat das Staatsoberhaupt nicht.

Stefan Braun und Claus Hulverscheidt

So viel ist sicher: Ein Unfall ist es nicht gewesen. Als Bundespräsident Christian Wulff die Einladung zu einer Rede vor Wirtschaftsnobelpreisträgern in Lindau annahm, war ihm klar, dass er an der Debatte um den Euro und die Zukunft Europas nicht vorbeikommen würde. Entsprechend akribisch bereitete er sich auf die Fahrt an den Bodensee vor, entsprechend intensiv bastelte er an seiner Botschaft. Und entsprechend groß war am Donnerstag, dem Tag danach, die Verwirrung im Bundespräsidialamt darüber, dass in Berlin die Frage auftauchte, ob seine scharfe Kritik am Vorgehen der Europäischen Zentralbank (EZB) in der Euro-Krise vielleicht ein Versehen gewesen sein könnte. Nein, das war es nicht: Wulff hält es für falsch, dass die EZB seit Monaten Anleihen der EU-Krisenländer aufkauft, er sieht darin einen Verstoß gegen europäisches Recht und die Unabhängigkeit der Notenbank, und genau das wollte er laut und unmissverständlich sagen.

Christian Wulff kritisiert mit seiner Rede vor Wirtschaftsnobelpreisträgern indirekt die Politik von Kanzlerin Merkel. Im Bundespräsidialamt widerspricht man nun sehr bemüht der These, Wulff habe versucht, der Kanzlerin in die Parade zu fahren. (Foto: dapd)

Es war im Übrigen nicht das erste Mal - darauf weist ein Sprecher des Präsidenten am Donnerstag hin -, dass das Staatsoberhaupt seine Sorgen in dieser Frage öffentlich zum Ausdruck gebracht hat. Schon bei einem Besuch des italienischen Präsidenten Giorgio Napolitano Ende Februar in Berlin hatte Wulff derartige Anleihenkäufe der EZB kritisiert. Allerdings, und das war dem Präsidenten seinerzeit durchaus aufgefallen, hatte das kaum jemand zur Kenntnis genommen. Umso mehr war er bei seinem jetzigen Auftritt darauf erpicht, seine Botschaft unters Volk zu bringen.

Dabei wird aus dem Bundespräsidialamt auch der These widersprochen, hinter Wulffs Rede stehe eine Strategie oder gar der Versuch, Kanzlerin Angela Merkel offen in die Parade zu fahren. Als etwas anderes aber, so heißt es in Schloss Bellevue, dürfe Merkel Wulffs Worte durchaus verstehen: als Mahnung nämlich, dass der Bundespräsident bei allem, was künftig im Zuge der weiteren Beschlüsse zur Euro-Rettung über seinen Schreibtisch gehe, sehr genau auf mögliche Gesetzesverstöße achten werde. Leise wird dabei auch darauf verwiesen, dass Wulff sich vor gar nicht so langer Zeit ausführlich über die Beteiligungsrechte des Parlaments eingelassen habe. Der Wochenzeitung Die Zeit hatte er gesagt, der Bundestag sei "die Herzkammer der Demokratie" - und müsse dies auch bleiben. Viel deutlicher geht es kaum, wenn jemand eine Regierung, eine Koalition, eine Kanzlerin davor warnen will, überhastet und über das Parlament hinweg Fakten zu schaffen.

Allzu großen Eindruck in der Bundesregierung hat die Rede des Präsidenten dennoch nicht hinterlassen - was vor allem daran liegt, dass Wulff zwar die Mängel der Vergangenheit und der Gegenwart, nicht aber einen Weg in die Zukunft aufgezeigt hat. Genau an der Stelle nämlich, an der es interessant zu werden versprach, endete die präsidiale Rede. Ob der höchste Repräsentant der Bundesrepublik über seine Kritik am Krisenmanagement von EZB und EU hinaus auch eine Vorstellung davon hat, wie Europa und die Währungsunion künftig konstruiert werden sollen, erfuhren so weder die Nobelpreisträger noch die eigentlichen Adressaten der Rede: die Bundesbürger. Auch zur grundsätzlichen Bedeutung der europäischen Einigung, zur Frage, welchen Wert die EU für Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten hatte und künftig haben wird, schwieg der Präsident. Dabei ist er es, der über das Privileg und die Autorität verfügt, sich über die Mühen der Tagespolitik hinaus Gedanken zum großen Ganzen zu machen.

Doch es ist nicht nur der Mangel an Visionen, der Kritikern inner- und außerhalb der Bundesregierung am Tag nach der Rede ins Auge sticht, es ist auch die Trivialität mancher Aussagen des Bundespräsidenten. In Europa müsse, frei wiedergegeben, weniger gerettet und mehr gespart werden, hat Wulff beispielsweise gesagt - und verschwiegen, dass Griechen, Iren und Portugiesen auf Druck der EU-Partner einen Sanierungskurs eingeschlagen haben, der in Deutschland in seiner Vehemenz unvorstellbar wäre. Ebenso dürftig wie wohlfeil ist auch die Forderung, dass sich die Politik nicht länger von Banken und Ratingagenturen "am Nasenring durch die Manege führen lassen" dürfe. Dahinter steckt der weitverbreitete Irrglaube, dass die Politik einer anonymen Macht, den viel zitierten "Märkten", ausgeliefert sei. Dem ist aber nicht so: Vielmehr haben die politischen Parteien in Deutschland und anderswo, darunter auch die CDU des einstigen Vize-Vorsitzenden Wulff, die Schranken erst eingerissen, deren Fehlen es der Finanzindustrie heute ermöglicht, ganze Staaten mit Hilfe von Wettgeschäften unter Druck zu setzen. Und selbstverständlich könnten die gleichen Parteien vieles von dem, was die Wulff-CDU seinerzeit an "Deregulierung" und "Liberalisierung" mit umgesetzt hat, auch wieder zurückdrehen.

Doch dazu kein Wort. Stattdessen plädiert der Präsident für "gut funktionierende, leistungsfähige, globale Kapitalmärkte, die dabei helfen, Risiken zu beherrschen, anstatt sie zu schaffen". Was aber heißt das? Bedeutet das, dass gerade konservative und liberale Politiker in Europa sich eingestehen müssten, dass sie in der Vergangenheit in die falsche Richtung marschiert sind? Keine Antwort. Stattdessen fordert Wulff "konsequentes Handeln" der Regierenden - eine Worthülse, die alles und nichts bedeutet.

Der Bundespräsident hat in seiner Rede ein Unwohlsein aufgegriffen, das vielleicht Millionen Bundesbürger in den vergangenen Monaten beschlichen hat: Dass da nämlich etwa grundsätzlich schieflaufen könnte in Europa. Dass der Präsident dieses Unwohlsein teilt, kann im Kanzleramt und im Finanzministerium im Ernst niemanden überrascht haben. Denn das Staatsoberhaupt, so ist zu hören, hat seine Bedenken auf informellem Wege immer wieder zu verstehen gegeben. Eine rasche Lösung allerdings hat Wulff augenscheinlich ebenso wenig zur Hand wie diejenigen, die jetzt zum Ziel seiner präsidialen Attacke wurden.

© SZ vom 26.08.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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