Bürokratiemonster Hartz IV:"Durch die Überfürsorge entmündigen wir Menschen"

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  • Nicht nur Hartz-IV-Bezieher bekommen pedantische Regeln zu spüren - auch die Jobcenter.
  • Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, fordert eine Vereinfachung des Bürokratiemonsters.
  • Für ihn steht fest: "Durch diese Überfürsorge entmündigen wir Menschen, statt ihre Eigenverantwortung zu stärken, wie es das Gesetz vorsieht."

Von Thomas Öchsner, Berlin

Am Anfang hatten die Reformer eine naheliegende Idee: Als die rot-grüne Bundesregierung mit der Agenda 2010 die Sozialhilfe in ihrer bisherigen Form abschaffte und Hartz IV einführte, wollte sie den Sozialstaat moderner machen. Es sollte endlich Schluss sein mit dem komplizierten Berechnen von Leistungen für diejenigen, die zum Überleben Geld vom Staat brauchen.

In einer Pauschale, derzeit 399 Euro für einen Alleinstehenden, sollte möglichst alles drin sein. Doch nun, zehn Jahre danach, ist klar: Hartz IV hat sich zu einem Bürokratiemonster mit Absurditäten entwickelt, die es in dieser Form wohl nur in Deutschland gibt.

Hartz IV muss einfacher werden, fordert BA-Vorstand Alt

Die durchschnittliche Akte eines der 3,4 Millionen Hartz-IV-Haushalte ist etwa 650 Seiten dick. Das liegt auch daran, dass der Hartz-IV-Regelsatz eben nicht alles abdeckt. Wer sich zum Beispiel mit einem Boiler getrennt von der Heizung elektrisch mit Warmwasser versorgen muss, bekommt 9,18 Euro monatlich obendrauf. Kindern steht für solche warmen Duschen ebenfalls ein Obolus zu - gestaffelt nach Altersstufen. Hat das Kind 7. oder 15. Geburtstag, ist ein neuer Hartz-IV-Bescheid fällig, weil es von diesem Alter an ein paar Cent mehr gibt.

Auch mit der Frage, welche orthopädischen Schuhe und Einlagen geeignet sind, müssen sich Mitarbeiter in den Jobcentern befassen. Liegt ein ärztliches Attest vor, gibt es dafür Extra-Geld vom Staat, abzüglich eines Eigenanteils. Für orthopädische Hausschuhe etwa beträgt dieser 40 Euro. Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit (BA), sagt: "Es kann nicht unsere Aufgabe sein, sich mit DIN-Normen von Schuhen und Einlagen zu beschäftigen und darauf zu achten, dass nicht die falschen Schuhe die richtigen Einlagen haben oder die richtigen Schuhe die falschen Einlagen."

Gibt es für orthopädische Schuhe einheitliche, von der Nürnberger BA vorgegebene Standards, wird es bei der sogenannten "Erstausstattung der Wohnung" noch komplizierter: Ziehen Hartz-IV-Bezieher neu in eine Wohnung ein oder ist diese zu renovieren, werden sie dabei vom Jobcenter finanziell unterstützt. Wie und in welcher Höhe dies nötig ist, entscheidet die Kommune. Städte und Landkreise mit Jobcenter haben dafür eigene Regelkataloge verfasst - mit viel Liebe fürs Detail.

In Berlin sollen die Jobcenter zum Beispiel bei Gardinen für Deko-Stoff pro laufenden Meter fünf Euro zahlen. "Angemessen ist die 2-fache Fensterbreite für Store und Deko-Stoff", so ein Rundschreiben des Sozialsenats. Muss ein Hartz-IV-Empfänger in Düsseldorf 45 Quadratmeter Wandfläche tapezieren, werden ihm dafür "unter Berücksichtigung der in der Tabelle aufgeführten Ergiebigkeitswerte" unter anderem zwei Pakete Kleister ersetzt - das Stück für 2,20 Euro.

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In Hamburg können "für die Bewirtung von freiwilligen Helfern Kosten in Höhe von insgesamt bis zu 25 Euro übernommen werden", heißt es in einer Fachanweisung. In Dortmund haben die Jobcenter zwei Euro für den laufenden Meter Fußleisten auszuzahlen, sofern diese fehlen.

BA-Vorstand Alt hält jedoch gar nichts davon, bis ins letzte Detail Einzelfallgerechtigkeit zu schaffen und dadurch die Bürokratie auszubauen. "Durch diese Überfürsorge entmündigen wir Menschen, statt ihre Eigenverantwortung zu stärken, wie es das Gesetz vorsieht." Für ihn steht fest: Hartz IV muss einfacher werden, damit nicht mehr die Hälfte des Personals in den Jobcentern mit dem Berechnen von Leistungen beschäftigt ist. "Dann haben wir auch mehr Zeit dafür, Menschen in Ausbildung und Beschäftigung zu bringen."

© SZ vom 12.01.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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