Bürgernahe EU:Wie Europa unsere Heimat werden kann

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Kampagne vor der Europawahl: Mitglieder der französischen Grünen entrollen vor der Kathedrale von Straßburg eine gigantische europäische Flagge.

(Foto: AFP)

Die meisten Menschen wollen Europa. Aber sie wollen es anders. Europa darf nicht nur Wirtschaftsgemeinschaft sein, nicht nur Nutzgemeinschaft für die Industrie, sondern muss Schutzgemeinschaft werden für die Bürger. Das geht nicht mit Geschwurbel, das geht nur mit handfester sozialer Politik.

Von Heribert Prantl

An diese Kiste hatte ich schon lang nicht mehr gedacht. Sie stand einst im Zimmer meiner Großmutter - einer resoluten oberpfälzischen Bauersfrau, die 14 Kinder geboren hatte, also einige Kinder mehr, als die Europäische Union in den ersten dreißig Jahren ihrer Existenz Mitgliedsstaaten zählte.

Großmutters wichtigste Erinnerungen waren in dieser Holzkiste verwahrt, auf welcher in Sütterlin-Schrift "Der Krieg" stand. Darin befanden sich Briefe, die ihre Söhne und Schwiegersöhne von allen Fronten des Zweiten Weltkriegs nach Hause geschrieben hatten.

Jüngst, in den Wochen der sich zuspitzenden Krise auf der Krim kam mir also diese Kiste wieder in den Sinn - weil einer der vielen Briefschreiber Soldat war in der deutschen 11. Armee unter General Erich von Manstein, die 1941/42 versuchte, Sewastopol auf der Krim zu erobern. Was würde Großmutter sagen, wenn sie noch lebte? "Schreib was, Bub", würde sie sagen, "schreib was, dass es nicht wieder Krieg gibt".

Millionen erleben Europa in den Ferien - ohne es zu merken

Sie würde mir dann, wie so oft, nicht nur vom Zweiten, sondern auch vom Ersten Weltkrieg erzählen: Wie der Krieg auf einmal da war, vor hundert Jahren, mitten im schönsten August. Und dann würde sie vom großen "Wunder" reden, das sie kaum glauben könne, wenn sie in die alte Kiste schaue. Man müsse dies' Wunder hüten wie ein rohes Ei: das Wunder Europa nämlich.

Das Wunder Europa? Selbst diejenigen Deutschen, die sich für gute Europäer halten, haben es sich angewöhnt, über die EU zu lästern, wie es Schüler über die Schule tun: Man klagt über die Bürokratie von Brüssel, über die Demokratiedefizite, die Kosten, den Wirrwarr der Richtlinien, den Euro und die Rettungsschirme. Die Klagen sind berechtigt. Aber: Die Deutschen (und nicht nur sie) haben verlernt, das Wunder zu sehen.

Die EU ist trotz alledem das Beste, was Europa in seiner langen Geschichte passiert ist. Derweil die Ukrainer für Europa auf die Straße gehen und die Letten den Euro einführen, nimmt in den Ländern der Europäischen Union die Europa-Skepsis zu; in Deutschland auch.

Nie gab es so wenig Schranken

Es sind Osterferien, es ist die Zeit der Städtereisen. Man fährt nach Florenz oder Nizza, nach Versailles oder Venedig, nach Paris, Rom, Prag oder Athen, nach Brügge und Gent, man läuft durch die großen Museen und die alten Burgen, durch Klöster, Schlösser und Gärten, Dome und Tempel, man ist vergnügt, man schaut mit großen Augen - und sieht trotzdem eines nicht: dass die Europäische Union all das, all diese Geschichte, diese Traditionen in sich birgt und darauf aufbaut. Und nie konnten sich die Menschen dieses Kontinents dort und darin so frei bewegen, nie gab es so wenig Schranken, Grenzen, Hemmnisse. Millionen von Reisenden erfahren und erleben dies in ihren Ferien. Mehr denn je können die Menschen in diesem Europa das sein, was einst Joseph Roth sein wollte: Patriot und Weltbürger zugleich.

Vertrauen tropft nicht von Rettungsschirmen

Man sollte wieder einmal Joseph Roths "Radetzkymarsch" lesen. Im Vorwort zu seinem Roman führt der Herzenseuropäer Roth - geboren 1894 im galizischen Schtetl Brody, das zu Österreich-Ungarn gehörte, gestorben 1939 in Paris - bittere Klage über den Untergang des alten Europa: "Ein grausamer Wille der Geschichte hat mein altes Vaterland", so schrieb er, "die österreichisch-ungarische Monarchie, zertrümmert. Ich habe es geliebt, dieses Vaterland, das mir erlaubte, ein Patriot und ein Weltbürger zugleich zu sein, ein Österreicher und ein Deutscher unter allen österreichischen Völkern. Ich habe die Tugenden und die Vorzüge dieses Vaterlands geliebt und ich liebe heute, da es verstorben und verloren ist, auch noch seine Fehler und Schwächen."

Wie frohgemut, wie euphorisch würde dieser Joseph Roth heute durch das neue Europa gehen! Aus Trauer über den Untergang des alten Europa hat er sich in den Alkohol geflüchtet, er ist im Kummer ersoffen. Heute würde er jubilieren in seinem Pariser Stammcafé, dem Café Tournon; er würde die europäische Geschichte vor Freude tanzen lassen und es wäre ihm schwindlig vor Glück, weil sein altes Europa ganz neu wieder auferstanden ist, größer, friedlicher und einiger denn je.

Gerettet werden keine Menschen - schon gar nicht in Griechenland

Die fünf Jahre seit der letzten Europa-Wahl waren die Jahre der Finanzkrise. Es waren dramatische Jahre. Davon ist im Europa-Wahlkampf 2014 aber wenig zu spüren, in Deutschland fast gar nichts. Dieser Wahlkampf läuft matt dahin. Die Krise sei überwunden, behauptet die Bundesregierung. Selbst in Griechenland gehe es wieder aufwärts und die Märkte hätten wieder Vertrauen. Es ist das alte Lied. Aber es geht nicht um das Vertrauen der Märkte, es geht um das Vertrauen der Menschen. Sie trauen diesen Erfolgsmeldungen nicht mehr, als sie den Rettungsschirmen getraut haben.

Die Rettungsschirme waren und sind unvorstellbar groß. Aber die Größe allein bringt es nicht. Die EU braucht das Vertrauen ihrer Bürger und dieses Vertrauen tropft nicht einfach von Rettungsschirmen herunter. Wie sehr das Vertrauen geschädigt ist, konnte man in den vergangenen Jahren in fast jeder Diskussion zu fast jedem Thema hören: Ob es um die verschimmelten Wände im Klo der Grundschule ging oder um die erbärmlichen Zustände im Altersheim - immer gab es wilden Beifall, wenn dann einer auf die Milliarden für die Banken hinwies und dann sagte: aber für die Kinder und die Alten fehlt das Geld. Rettungsschirme: Gerettet wurden und werden damit nicht Menschen, schon gar nicht in Griechenland. Die Schutzschirme sind für Banken und Euro aufgespannt worden. Gerettet wurden Schuldverhältnisse, Finanzbeziehungen, Machtgefüge, Wirtschaftssysteme; sie sollen überleben.

Europa könnte in eine ungute Vergangenheit zurückfallen

Die meisten Menschen wollen Europa, aber sie wollen es anders. Sie wollen ein Europa, das Arbeitslosigkeit bekämpft und ihnen die Angst vor Billigkonkurrenz nimmt. Wie eine andere, eine bürgernahe EU aussehen könnte, das müsste das Thema des Europa-Wahlkampfs sein. Europa muss Heimat werden für die Menschen. Europa darf nicht nur Wirtschaftsgemeinschaft sein, nicht nur Nutzgemeinschaft für die Industrie, sondern muss Schutzgemeinschaft werden für die Bürger. Das geht nicht mit Geschwurbel, das geht nur mit handfester sozialer Politik.

Desinteresse und Misstrauen haben sich in den zurückliegenden Europa-Wahlen in Wahlverweigerung geäußert. Diesmal kann es sein, dass das Misstrauen mit europafeindlichem Trara ins Parlament einzieht. Es besteht die Gefahr, dass die Nationalismen dort Raum gewinnen, dass europa-kritische und europa-feindliche Parteien ins Parlament gewählt werden - und Europa so zurückgeschoben wird in eine ungute Vergangenheit, in ein Nebeneinander und Gegeneinander.

Die Europäische Bürgerinitiative hat noch große Defizite

Dabei hat sich in der Euro-Krise gezeigt, dass es gemeinsame europäische Öffentlichkeit gibt - in Paris, in Rom, Den Haag, Wien und Berlin wurden und werden dieselben Probleme diskutiert. Und wenn in europaweiten Protesten Demonstranten, zuletzt eindrucksvoll in Spanien, von ihren Regierungen und von der EU fordern, in einer globalisierten Welt für ein gewisses Maß an ökonomischem Anstand zu sorgen, dann ist das erstens nicht unbillig - und zweitens ein Zeichen dafür, dass es ein gemeinsames sozialstaatliches europäisches Bewusstsein gibt.

In Spanien waren jüngst Demonstranten wochenlang zu Fuß nach Madrid unterwegs, um den "sozialen Notstand" im Land anzuprangern. "Die Krise sollen die Banker zahlen" und "Brot, Arbeit und Wohnung für alle", stand auf ihren Plakaten. Man kann nicht sagen, dass diese Forderungen falsch sind. Es reicht nämlich nicht, wenn Europapolitiker mit Pathos von der Friedensgemeinschaft Europa reden. Es reicht nicht, wenn sie auf die große Reisefreiheit hinweisen, auf das Europa ohne Grenzen. Erst eine kluge und fürsorgliche Sozialpolitik macht aus der etwas sperrigen EU eine Heimat für die Menschen, die darin leben.

Die Europäische Bürgerinitiative, eingeführt vom Lissabon-Vertrag, konnte Hoffnung wecken auf einen neuen demokratischen Aufbruch in Europa. Die institutionellen Hürden sind hoch, eine Million aller Bürgerinnen und Bürger in einem Viertel aller Mitgliedsländer müssen der Initiative zustimmen.

Richtig zufrieden kann man mit dieser Europäischen Bürgerinitiative aber noch nicht sein - ihre Reichweite ist begrenzt auf die Fragen, für die die EU-Kommission zuständig ist. Und diese Kommission, die einen demokratischen Legitimationstest kaum bestehen würde, entscheidet auch über die Zulässigkeit einer Bürger-Gesetzesinitiative. Da können zwei Millionen Bürger - wie es bei der Initiative "Wasser ist Menschenrecht" war - gegen die Privatisierung der Wasserversorgung unterschreiben; und dann kann die Kommission diese Initiative trotzdem einfach wegwischen. Das ist nicht gut, das ist nicht recht, das ist ein schwerer Fehler.

Jeder Wahlschein ist eine kleine Eintrittskarte

Geld ist wichtig in Europa. Mit Geld kann man Europa gestalten, man kann es auch verunstalten und zerstören. Es gibt ein eklatantes Missverhältnis zwischen der Hektik der Spardiktate, die über die Südländer der EU verhängt wurden und der Apathie, wenn es um die Zähmung des Finanzkapitalismus geht. Europa erleidet die Folgen der Alters- und Anti-Aging-Exzesse des Kapitalismus. Wäre die Union ein Staat, sie wäre nach der Bevölkerungszahl der drittgrößte Staat der Welt - 500 Millionen Menschen. Die meisten Menschen in Europa spüren die potenzielle Stärke dieses großen Europa nicht: Sie wollen eine Union, die ihnen auch soziale Geborgenheit gibt.

Auf dem Papier zumindest ist die EU schon ein wenig sozial geworden: Im Artikel 3 des Lissabon-Vertrages ist nicht mehr nur von einem Europa die Rede, das auf ausgewogenes Wirtschaftswachstum und auf Preisstabilität setzt; in diesem Artikel 3 heißt es auch, dass auf eine wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft hingewirkt werden soll, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt. In der Grundrechte-Charta der EU sind sogar soziale Grundrechte aufgeführt, die im Grundgesetz nicht genannt werden. Es reicht aber nicht, dass sie dort nur aufgeführt sind. Die sozialen Grundrechte brauchen einen Hüter: Der EU-Gerichtshof in Luxemburg muss ein solcher Hüter sein.

Die Stärke Europas misst sich am Wohl der Schwachen

Warum? Die Sozialstaaten in Europa haben eine Erfolgsgeschichte hinter sich. Diese Erfolgsgeschichte hat in den verschiedenen EU-Staaten jeweils verschiedene Wegmarken. In Deutschland hat der Sozialstaat zunächst dafür gesorgt, dass Kriegsinvalide und Flüchtlinge einigermaßen leben konnten. Dann hat er dafür gesorgt, dass auch ein Kind aus kärglichen Verhältnissen studieren und später sogar Bundeskanzler werden konnte. Ohne den Sozialstaat hätte es nicht nur einmal gekracht in der Bundesrepublik; der Sozialstaat hat soziale Gegensätze entschärft. Ohne ihn hätte es wohl auch keine deutsche Einheit gegeben. Und ohne gute Fortsetzung dieser Erfolgsgeschichte wird es keine europäische Einheit geben.

In der Präambel der Verfassung der schweizerischen Eidgenossenschaft aus dem Jahr 1999 steht der Satz: "Die Stärke eines Volks misst sich am Wohl der Schwachen". Das ist eine richtige und zukunftsweisende Devise; sie gilt nicht nur für die Schweiz. Auch die Stärke Europas misst sich am Wohl der Schwachen - der schwachen Staaten und der schwachen Menschen; sie misst sich am Vertrauen, das die Bürger in dieses Europa setzen.

Die Europawahl in diesem Jahr wird kurz vor Pfingsten sein. Pfingsten ist das Fest des Geistes. Wenn dieser Geist in die Europäer fährt, dann sollte, dann müsste die Wahlbeteiligung eigentlich bei mindestens neunzig Prozent liegen. Jeder Wahlschein ist eine kleine Eintrittskarte - für eine hoffentlich soziale europäische Demokratie. Das neu zu wählende Europäische Parlament braucht die Kompetenz, Europa ein soziales Gesicht zu geben.

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