Bürgerkrieg in Syrien:Fürs gute Gewissen ist es zu spät

Syrien Frau Zivilisten Kind Aleppo

Eine Mutter mit ihrer Tochter in der umkämpften Stadt Aleppo. Die Aufnahme entstand im September 2012.

(Foto: AFP)

Es ist zum Verrücktwerden: Unter maßgeblicher Beteiligung ausländischer Staaten eskaliert ein Konflikt, der nicht nur ein Land, sondern die gesamte Region noch Jahrzehnte mit Gewalt überziehen könnte. Es gibt keine Lösungen mehr für die Syrien-Krise. Doch von allen falschen Optionen ist Nichtstun die gefährlichste.

Ein Gastbeitrag von Navid Kermani

Der Autor ist Schriftsteller und Orientalist und lebt in Köln. Zuletzt erschien von ihm "Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigte Welt" bei C. H. Beck.

Laut dröhnt das Schweigen, mit dem weltweit die Menschen des Wortes, die Literaten und Gelehrten, auf den Krieg in Syrien reagieren. Der Strudel an Brutalität, Verelendung, Vertreibung und konfessionellem Schisma, in den der Aufstand der Syrer geraten ist, findet Beachtung nur noch in der außenpolitischen Berichterstattung.

Es ist zum Verrücktwerden: Unter maßgeblicher Beteiligung ausländischer Staaten eskaliert ein Konflikt, der nicht nur ein Land, eine selten vielgestaltige Gesellschaft, Prachtstätten uralter Zivilisation, sondern die gesamte, strategisch hochbedeutsame Region noch Jahre und Jahrzehnte mit Gewalt, Terrorismus, Massenflucht, Rechtlosigkeit und ethnischen oder konfessionellen Säuberungen überziehen könnte - und die stets heiß laufende Gesprächsmaschine unseres literarischen Lebens widmet der Katastrophe nicht einmal eine Podiumsdiskussion.

Dabei droht schon nicht mehr nur das libanesische oder afghanische Szenario, also ein Bürgerkrieg zwischen immerhin einigermaßen klar umrissenen Parteien, die sich nur genügend entkräften müssen, um in einen Friedensprozess einzuschwenken. Was Syrien droht, ist, wie es der Sondergesandte der Vereinten Nationen, Lakhdar Brahimi prophezeite - was Syrien droht, ist seine Somalisierung.

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Wer will was in Syrien?

Nur dass der Albtraum einer dauerhaft rechtsfreien Zone, die von Waffen, mafiösen Kartellen, staatsnahen Todesschwadronen und religiösen Extremisten starrt, sich nicht im Jenseits globaler Wahrnehmung und Interessen abspielen wird, wo allenfalls einige Kriegsschiffe hingeschickt werden müssten, um vorbeiziehende Handelsschiffe vor Piraten zu schützen. Nein, dieser Albtraum findet bereits in unmittelbarer Nachbarschaft Europas, Israels und mehrerer arabischer Staaten statt, die selbst schon labil genug sind. Wer sich nicht für das Schicksal der Syrer interessiert, sollte auf die Landkarte schauen, um sich wenigstens um die eigene Sicherheit und Stabilität zu sorgen.

Ja, der Konflikt ist kompliziert geworden. Gab es anfangs sehr wohl Optionen, die demokratische Opposition zu unterstützen, aber keinerlei Bereitschaft im Westen, sich ernsthaft im syrischen Konflikt zu engagieren, so ist die Bereitschaft inzwischen zwar in einigen Hauptstädten vorhanden, aber die Optionen nicht mehr. Jetzt noch Maschinengewehre und Schutzwesten zu liefern, da sich, wie vielfach vorausgesehen, unter die Rebellen immer mehr Glaubenskrieger mischen, oft aus dem Ausland, wird die Ungleichheit der Waffenarsenale nicht aufheben, sondern im besten - oder schlimmeren? - Fall den Krieg nur weiter in die Länge ziehen.

Die Bevölkerung wird zerrieben

Die Regierungssoldaten haben jüngst zu viele Siege errungen, die Dschihadisten unter der Zivilbevölkerung zu viel Schrecken verbreitet, als dass das Regime noch immer fürchten müsste, vor lauter Desertionen zu kollabieren. Zugleich sinkt mit ihrer Radikalisierung und gleichzeitigen Zersplitterung die Bereitschaft, ja überhaupt Befähigung der Rebellen zu einem Kompromiss, einer letztlich notwendigen Verständigung mit Vertretern des Staates. Auf dem Gefechtsfeld zerrieben wird eine Bevölkerung, die 2011 den Repressionen viele Wochen lang mit einem wirklich schon heroischen Massenprotest trotzte, friedlich, phantasievoll und übrigens dezidiert säkular - und nun für ihren Freiheitsdrang mit der Verwüstung ihrer Städte bestraft wird.

Was also wäre zu tun? Der Leser wird hoffentlich keine bündige Antwort erwarten. Es gibt keine guten, guten Gewissens vertretbaren Optionen mehr. Fürs gute Gewissen ist es zu spät. Egal, was der Westen jetzt noch tun könnte, um die Entwicklung in Syrien zu beeinflussen - es wird unzulänglich sein und schwerwiegende Risiken bergen. Nur: Unter allen falschen Optionen ist das Nichtstun, für das sich die Deutschen wieder entschieden haben, beinah die gefährlichste. Denn Nichtstun bedeutet, andere tun zu lassen. Während Russland, Iran und die Hisbollah die Diktatur am Leben halten, befeuern Saudi-Arabien und Katar nach allen Kräften den Konfessionskrieg zwischen Sunniten und Schiiten.

Europa hat keinen Grund, sich als Oberlehrer zu gebärden

Einzig hinter der Demokratie steht keine äußere Macht. Schlimmer noch: Natürlicherweise wird die Unterstützung, die die radikalen Islamisten aus den Golfstaaten erhalten, von der Syrern als westliche Unterstützung wahrgenommen. Schließlich hat der Westen in der Region keine engeren Verbündeten als Saudi-Arabien und Katar. Und die Kritik an den Paten Assads wäre erheblich glaubwürdiger - und eine Friedenskonferenz ungleich aussichtsreicher -, wenn der Westen endlich auch die Paten des Dschihads anginge. Aber das geht offenbar aus strategischen Gründen nicht.

Denn tatsächlich wird im Nahen Osten der alte Ost-West-Konflikt als Schisma zwischen Schia und Sunna neuinszeniert. Dass neben Russland ausgerechnet die iranische Theokratie als die Schutzmacht des laizistischen Assad-Regimes auftritt, während Amerika in Syrien, aber auch in Ägypten und anderen Ländern des arabischen Frühlings auf islamistische Kräfte setzt, unterstreicht die Austauschbarkeit der ideologischen Motive.

Syrien braucht nicht mehr, es braucht weniger Waffen. Statt sich selbst an der Aufrüstung zu beteiligen, sollte der Westen sein Gewicht besser dafür in die Waagschale werfen, dass die Militärhilfen gestoppt werden und die ausländischen Staaten ihre Stellvertreter auf einen Waffenstillstand einschwören. Dass die Androhung von Waffenlieferungen Druck erzeugen kann, um eine Abrüstung herbeizuführen, lehrt die politische Erfahrung und zeigt aktuell das Einlenken Russlands, das nun immerhin die Forderung nach einer Übergangsregierung akzeptiert. Dass Drohungen allerdings nur dann funktionieren, wenn sie auch wahr gemacht werden könnten, gehört zu den Unzulänglichkeiten und schwerwiegenden Risiken, die jedwede Syrienpolitik heute mit sich bringt.

Noch ist der Aufstand nicht vollends in einen Bürgerkrieg umgeschlagen, bei dem hier die Mehrheitsbevölkerung der Sunniten stünde und dort die Alawiten die übrigen Minderheiten wie die Christen oder Drusen hinter sich scharten. Dass die Führer der beiden wichtigsten Oppositionsgruppen Christen sind, Georges Sabra und Michel Kilo, zeigt allein schon, dass die Bruchlinien noch nicht scharf zwischen den Konfessionen verlaufen. Wahr ist allerdings auch, dass auf beiden Seiten der Front Extremisten den religiösen Hass befördern.

Die syrischen Kirchen stehen auf Assads Seite

Das Regime bezieht seine Legitimation aus dem Radikalismus seiner Gegner, den es deshalb systematisch schürt, etwa indem es alawitische Milizen einsetzt, um gezielt sunnitische Dorfbewohner zu massakrieren. Umgekehrt greifen die Dschihadisten bewusst Angehörige der religiösen Minderheiten an, damit der Aufstand endgültig in den Glaubenskrieg umschlägt, dem sie ihre Existenz verdanken. Dass die syrischen Kirchen sich in dieser Lage nicht neutral verhalten, sondern seit Beginn der Proteste Stellung für Assad beziehen, dabei die Massaker und Luftangriffe im wahrsten Sinne des Wortes totschweigen, hat die extrem fragile Situation der Christen noch befördert, die längst nicht so einhellig im Regierungslager stehen wie häufig behauptet.

Unter allen Städten des Orients waren Damaskus und Aleppo vielleicht die leuchtendsten, jeden Besucher verzaubernden Beispiele für die Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz unterschiedlicher Ethnien, Sprachen und Religionen. Europa, das seine ursprüngliche Vielfalt im zwanzigsten Jahrhundert mit Konzentrationslagern und ethnischen Säuberungen weitgehend ausgelöscht hat, Europa hat keinen Grund, sich als Oberlehrer der Toleranz zu gebärden.

Aber es könnte mit seinen Erfahrungen dazu beitragen, dass andere Gesellschaften nicht denselben Irrweg gehen. Wer, wenn nicht die Menschen des Wortes, wären verpflichtet, an die Verantwortung zu erinnern, die Europa damit auch für Syrien trägt?

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