Bürgerkrieg in Syrien:Fluchthelfer vor Gericht

Sie sollen Hunderte Syrer nach Deutschland geschleust haben: In Essen stehen sechs Männer vor Gericht, die von syrischstämmigen Bürgern Geld bekommen haben sollen, um die Flucht ihrer Verwandten zu organisieren. Doch sie passen nicht so recht ins Klischee.

Von Stefan Buchen und Hans Leyendecker

Der Neffe war jung, stark - und er sollte zum Militär. Auch die Rebellen wollten ihn als Kämpfer. "Ich bekam einen Anruf aus der Heimat", sagt der Syrer Fadhil Sheikmus, der seit etwa zehn Jahren in Niedersachsen lebt und Schlachtmaschinen reinigt. "Mir war klar: Wenn ein Neffe in Syrien bleibt, wird er entweder selbst zum Mörder oder er wird umgebracht. Aus Angst haben wir alles getan, um ihn da rauszuholen." Pause. "Ganz ehrlich, was hätten wir sonst tun sollen?" Die Familie sammelte also Geld für Schleuser, und die brachten den Neffen zu den Verwandten in Deutschland.

Oder Nashmiya Isaa, die auch aus dem Nordosten Syriens stammt. Ihr Mann war mal in Haft, weil er politisch aktiv war. Die Lage daheim war schlecht: "Kein Wasser, kein Strom, Hunger" sagt sie. Krieg eben. Zwei Schwestern sowie viele Cousinen und Cousins leben in Deutschland. Ein Schleuser regelte den Fall. "Ich bringe dich zu deiner Familie nach Dortmund", sagte er.

Wie lange die Fahrt dauerte, weiß sie nicht mehr. Sie schlief im Auto. Hält sie es für gerecht, dass der Schleuser danach in Deutschland ins Gefängnis kam? "Ich entscheide das nicht. Ich kann nur sagen: Er hat mich sicher zum Haus meiner Familie nach Dortmund gebracht. Er hilft und bekommt dafür Geld."

Ein Taxifahrer, ein Dachdecker und ein Bauingenieur vor Gericht

Zwei Geschichten über Krieg, Flucht - und Kriminalität. Schleusungskriminalität. Seit Juli werden diese Geschichten im Saal 101 des Landgerichts Essen verhandelt. Sechs Angeklagte standen anfangs vor Gericht: Darunter ein Taxifahrer aus Paris, ein syrischer Dachdecker aus Griechenland und ein Bauingenieur aus Essen.

Sie sollen 270 Syrer nach Deutschland geschleust haben. Das hat eine Ermittlungsgruppe der Bundespolizei in einer der aufwendigsten Schleuser-Ermittlungen der vergangenen Jahre mit monatelangen Telefonüberwachungen und Observationen herausgefunden. Fast alle Flüchtlinge stellten danach Antrag auf Asyl.

Den Angeklagten drohen hohe Haftstrafen. Gegen etwa vierzig in Deutschland lebende Syrer wird zudem ermittelt, weil sie den Schleusern Geld für die Flucht ihrer Verwandten bezahlt haben.

Zwei Verfahren wurden in dem Prozess abgetrennt. Ein geständiger syrischer Taxifahrer, ein Kleinschleuser also, der in der Regel für rund 800 Euro Landsleute von Paris nach Deutschland gebracht hatte, erhielt vorige Woche für elf Schleusungen zwei Jahre und zehn Monate Haft. Spätestens da war klar, was den anderen Angeklagten drohen kann, denen bis zu 31 Schleusungsfälle vorgeworfen werden. Der Vorsitzende Richter sprach von einem "Motivbündel" aus finanziellen Beweggründen und dem Wunsch, Flüchtlingen zu helfen. Bei den Schleusern habe es einen "hohen Organisationsgrad" und eine "bandenähnliche Struktur" gegeben.

Das Geschäft mit den Flüchtlingen

Schleusungskriminalität ist ein Verbrechen. Es zeigt seine hässlichste Fratze, wenn etwa vor Lampedusa, der Insel im Mittelmeer, ein Boot voller Leichen treibt. Da schauen die Bewohner der Festung Europa, die sich mit Infrarotkameras, Radar, Nachtsichtgeräten und Gesetzen gegen die Fremden wehren, dann für einen kurzen Augenblick hin und erschrecken vielleicht.

Es gibt Paten, Könige in diesem manchmal sehr schmutzigen Gewerbe, wie den berüchtigten Syrer Majed Berki, der vor gut einem Jahrzehnt viele Tausend Kurden mit Schiffen nach Südeuropa transportieren ließ und im Libanon untertauchte. Mit dem Geschäft mit Flüchtlingen werden nach Schätzungen der Uno weltweit über zehn Milliarden Dollar bewegt.

Wenn man das große Ganze über die Jahre so sieht, wirken die Schleuservorgänge, die in Essen verhandelt werden, relativ klein und sie passen nicht so recht zu den üblichen Beschreibungen über organisierte Kriminalität. Die Diskrepanz lässt sich möglicherweise an der Person des Hauptangeklagten Hanna L. beschreiben, der auch aus dem Nordosten Syriens stammt.

Hanna L. ist 59 Jahre alt, lebt seit fast 30 Jahren in Deutschland, ist Bauingenieur, verdient 6200 Euro brutto im Monat, hat Frau und drei Kinder. Das Haus, das er gebaut hat, ist schuldenfrei, und vorbestraft ist er auch nicht. Hanna L. soll der "Hauptorganisator, Schleuser und Schleuser-Finanzier" sein, so haben es die Fahnder in einem Vermerk notiert. Medien nennen ihn den "König der Schleuser".

Der angebliche Kopf der Bande hat, das steht fest, die meisten anderen Bandenmitglieder vorher nicht gekannt. Erst die Flüchtlinge, so scheint es, haben die Schleusungshelfer miteinander bekannt gemacht. Wenn es einer nach Deutschland geschafft hatte, meldete er in die Heimat, wen er wo wie um Hilfe gebeten hatte. So hatte es die nächste Familie leichter, weil sie wusste, an wen sie sich wo wenden konnte. Normalerweise funktioniert eine Bande anders.

Die Schleuser kassierten in der Regel 4000 bis 5000 Euro pro Person

Die Flüchtlinge hangelten sich von Station zu Station. An jeder Station gab es Helfer. Pässe wurden gefälscht. Behördenmitarbeiter wurden bestochen. Die Schleuser kassierten in der Regel 4000 bis 5000 Euro pro Person.

Die Frage, ob er sich auf Kosten der Flüchtlinge bereichert habe, verneinte einer der Angeklagten, Mohammad Darwish, genannt Hame, syrischstämmiger Dachdecker aus Athen, in einem Interview mit dem NDR auf bäuerisch-arabische Art: "Das Flugzeug gehört nicht meiner Mutter. Der Flughafen gehört nicht meinem Vater." Aus den Ermittlungsakten geht hervor, dass Darwish und seine Komplizen Flughafenangestellte geschmiert haben.

Hanna L., der angebliche Kopf der Bande, lernte Hame erst vor Gericht kennen. Hanna L. hat an all den Schleusungen nach eigener Rechnung 2995 Euro verdient. Die Ermittler meinen, es sei mehr gewesen.

Nach Ausbruch des Krieges in Syrien 2011, das jedenfalls steht fest, war Hanna L. von in Deutschland lebenden syrischstämmigen Bürgern gebeten worden, von ihnen das Geld anzunehmen, das für die Flucht von Angehörigen aus Syrien gezahlt werden sollte. Das Geld wurde an seinen Bruder, der in Syrien lebt, abzüglich einer Gebühr ausgezahlt. Westliche Fahnder nennen das seit dem 11. September "Hawala Banking". Das riecht nach Terrorismus.

Die Gebühren für die Transaktionen lagen in der Regel zwischen drei bis fünf Prozent. Das Geld teilten sich Hanna L., sein Bruder in Syrien und ein Großhändler in Aleppo. "Es geht hier nicht um eine Verbrecherbande", meint Fadhil Sheikmus, der Schlachtmaschinen-Reiniger aus Niedersachsen. "Das alles beruht auf Beziehungen aus der Heimat. Man kennt sich und hilft sich. Ich kenne Hame. Er kommt aus meiner Gegend. Er ist kein Schleuser. Er ist doch selbst Flüchtling gewesen."

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