Bürgerkrieg in Kolumbien:Die Wahrheit über die Todesschwadronen

Kolumbien - Militäraktion gegen die FARC

Militäraktion gegen die FARC: mitglieder der kolumbianischen Armee machen sich auf die Suche nach den kommunistischen Kämpfern in der Stadt  Corinto

(Foto: dpa)

Jeder ahnt es, niemand sagt es: Der Bürgerkrieg in Kolumbien ist ein grausamer Kampf, schon seit Jahrzehnten. Jetzt rechnen Historiker vor, dass in dem Konflikt bisher 220.000 Menschen gestorben sind - der Großteil von ihnen durch rechte Paramilitärs, nicht durch die Linken. Diese Wahrheit auszusprechen, ist gefährlich.

Von Sebastian Schoepp

Nur wer in Kolumbien älter als 65 Jahre ist, hat noch eine Zeit ohne Bürgerkrieg erlebt.

Am 9. April 1948 wurde in Bogotá der liberale Präsidentschaftskandidat Jorge Eliécer Gaitán ermordet. Der "Bogotazo" setzte eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt in Gang, die bis heute andauert. Nun hat das Nationale Historische Institut eine erste offizielle Bilanz des Schreckens vorgelegt: 220.000 Tote seit 1958 zählt der Bericht, davon 180.000 Zivilisten, für jeden Kämpfer starben also vier Unbeteiligte. 25.000 Menschen sind verschwunden. Millionen Menschen wurden vertrieben. "¡Basta ya!" (Es reicht jetzt!) heißt der Bericht der Historikergruppe, den Präsident Juan Manuel Santos am Mittwoch entgegennahm. Kolumbien müsse die Wahrheit erfahren, auch wenn sie unbequem sei, sagte er.

Die Wahrheit geahnt hat in Kolumbien praktisch jeder. Sie auszusprechen, ist gefährlich. Das machte der Kommissionsvorsitzende, der Historiker Gonzalo Sánchez, deutlich. Die Autoren schreiben den rechten Paramilitärs die Verantwortung für eine überwiegende Zahl der Verbrechen zu - und damit letztlich einer Elite des Landes. Darin besteht die Brisanz des Berichts.

Chiquite zahlte Paramilitärs

Von den zweitausend erfassten Massakern werden 1200 den Paramilitärs zugesprochen, 158 dem Militär. Die Todesschwadronen verrichteten ihr blutiges Handwerk vor allem für Großgrundbesitzer, Oligarchen, Politiker, die sie als Schutztruppe gegen linke Rebellen anstellten. Auch internationale Konzerne machten mit. Chiquita Brands etwa gab 2007 vor einem US-Gericht zu, Paramilitärs bezahlt zu haben.

Die Guerilla, die einst in einem marxistischen Umfeld gegründet wurde, radikalisierte sich dadurch immer mehr. Ihr werden in dem Bericht 343 Massaker zur Last gelegt. Sie habe sich dafür mehr auf Entführungen verlegt, stellt die Kommission fest. Für 24.500 Verschleppungen sollen die Rebellen verantwortlich sein, die Paramilitärs für 2500. Die Informationen auf den mehr als 400 Seiten basieren vor allem auf Aussagen von Überlebenden.

Die zitierten Berichte sind meist schwer erträglich. Es wird in Einzelheiten geschildert, wie die Paramilitärs töteten, mit Motorsägen, mit Säure, sie stellten die verstümmelten Körper öffentlich aus, um andere abzuschrecken. Um zum Opfer zu werden, reichte der Verdacht aus, mit der Guerilla zu sympathisieren. Hinter der Gewalt habe eine Strategie gesteckt, schreiben die Historiker.

Rebellen sollen zur Wahl antreten

2005 wurde die Erhebung in Auftrag gegeben. Es war die Regierungszeit des Präsidenten Álvaro Uribe, der die Guerilla mit Härte bekämpfte und sich rühmte, die Paramilitärs entwaffnet zu haben - was allerdings nicht mit sehr großer Gründlichkeit geschah. Inzwischen agieren sie in einigen Gegenden - ähnlich wie die Rebellen - als gewöhnliche Verbrecherbanden.

A defected guerrilla group ELN member falls in with comrades after their surrender in Cali

Mitglieder der kommunistischen National Liberation Army (ELN) geben auf: Sie legen ihre Waffen nieder

(Foto: REUTERS)

Die städtische Bevölkerung habe stets versucht, mit dem Konflikt zu leben, in dem sie ihn ignorierte, stellt die Kommission fest. "Die Opfer mussten sich ihr Leid gegenseitig erzählen", sagt der Vorsitzende Sánchez. Aus diesem Grunde fordern er und seine Mitarbeiter, das Land müsse sich seiner kollektiven Erinnerung stellen. Der Präsident solle einleitend die Verantwortung des Staates "vor der ganzen Gesellschaft" anerkennen.

Rebellen sollen zur Wahl antreten

Santos scheint nicht abgeneigt zu sein. "Wir haben unseren Tiefpunkt erreicht und müssen einsehen, dass der Krieg uns entmenschlicht hat," sagte er. Seit Beginn seiner Regierungszeit 2010 wird intensiv mit den "Revolutionären Streitkräften Kolumbien" (Farc) in Oslo und Havanna über Frieden verhandelt. Die linken Rebellen sind misstrauisch, seit sie sich in den Achtzigerjahren auf einen Friedensprozess einließen und Vertreter zur Wahl stellten. Einmal identifiziert, wurden sie zur Zielscheibe der Paramilitärs, die ein Gemetzel unter den Mitgliedern der UP (Unión Patriótica) veranstalteten. Als fast niemand übrig war, wurde die UP von der Wahlliste gestrichen. Anfang Juli jedoch wurde sie demonstrativ rehabilitiert und zur nächsten Wahl zugelassen, was die Eingliederung von Rebellen in die Politik erleichtern soll.

Auch die juristische Aufarbeitung der Verbindung von hohen Politikern zu Paramilitärs geht voran: Zwei ehemalige Kongressabgeordnete wurden am Mittwoch zu jeweils neun Jahren Haft verurteilt, weil sie im Wahlkampf 2006 von den paramilitärischen "Vereinigten Selbstverteidigungskräften Kolumbiens" unterstützt wurden. Im Mai wurde der frühere Parlamentspräsident César Pérez wegen eines Massakers an linken Aktivisten von 1988 zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt.

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