Bürgerbeteiligung:Volksentscheide ohne Volk

Verfechter der direkten Demokratie sagen immer, es unterfordere die Bürger, nur alle paar Jahre ein Kreuz machen zu dürfen. Was für eine Fehleinschätzung.

Von Detlef Esslinger

Wahrscheinlich betrachten die Bürger auf Helgoland nun das Thema als erledigt, über das sie seit Monaten gestritten haben. Das Ergebnis des Bürgerentscheids vom Sonntag ist, dass Kaminöfen auf der Insel erlaubt bleiben. Wahrscheinlich akzeptieren in Münster alle, dass sich die Mehrheit der abstimmenden Bürger nun grundsätzlich gegen verkaufsoffene Sonntage in ihrer Stadt ausgesprochen hat. Und zu Recht lobt der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer immer noch den Volksentscheid übers Rauchverbot in Gasthäusern vor sechs Jahren: Damit sei eine langjährige Auseinandersetzung endlich befriedet worden. Unter anderem mit diesem Beispiel begründet Seehofer stets, warum er auch für Volksentscheide auf Bundesebene ist. Wie viele andere zieht er damit aus einer richtigen Beobachtung den falschen Schluss.

Schon die Wörter "Bürgerentscheid" (bei Abstimmungen innerhalb einer Gemeinde) und "Volksentscheid" führen in die Irre. Sie suggerieren, dass es sich bei den Entscheidern um die Bürger oder das Volk handelt. Die Wörter unterstellen, dass Bürger und Volk sich im selben Maß für Abstimmungen begeistern wie diejenigen, die sie so ausdauernd propagieren. "Nur alle paar Jahre ein Kreuz zu machen, das ist eine demokratische Unterforderung", schreibt der Verein "Mehr Demokratie!" auf seiner Website.

Übers Rauchverbot abstimmen? Okay. Aber bitte nicht über TTIP

Was für eine Fehleinschätzung. Auf Helgoland hat am Sonntag immerhin (oder auch: lediglich) jeder Zweite am Bürgerentscheid teilgenommen. In Münster war es nicht einmal jeder Vierte. Und auch der CSU-Mitgliederentscheid, der am Freitag eine Zweidrittelmehrheit für Volksentscheide auf Bundesebene ergab, war einer, mit dem die meisten Mitglieder nichts anzufangen wussten. Gerade mal jedes dritte Mitglied nahm überhaupt teil. Die repräsentative Demokratie unterfordert die Leute nicht, eher ist es genau andersherum: Die direkte Demokratie überfordert sie. Zumindest überschätzen deren Verfechter das Verlangen danach.

Nun soll man Entscheide über Kaminöfen, verkaufsoffene Sonntage und Rauchverbot nicht dramatisieren. Erstens sind sie nicht grundlegend für ein Gemeinwesen, weshalb die Unterlegenen sich zweitens damit arrangieren können, dass die meisten Bürger daheimgeblieben sind. Drittens handelt es sich hier um überschaubare Fragen, bei denen auch Laien leicht zu einer Meinung finden können.

Bei Themen hingegen, die bundesweit von Belang sind, ist dies komplett anders. Ein Volksentscheid über TTIP, nur mal als Beispiel? Wer bei dem Thema seriös zwischen Pro und Contra entscheiden wollte, müsste eigentlich zuvor eine Woche Urlaub nehmen. Die allermeisten Bürger stünden am Ende vor der Wahl, entweder vor einer viel zu komplizierten Materie zu kapitulieren - oder der Versuchung nachzugeben, es den Amis oder den Linken (je nachdem, wen man nicht leiden kann) mit seiner Stimme zu zeigen. Die repräsentative Demokratie mag ja Mängel haben. Aber man hilft ihr nicht, indem man sie schleift.

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