Buch über Verena Becker:Gesammelte Verdächtigungen

Es wäre ein gewaltiger Skandal von Staats wegen: Ein Buch über Verena Becker legt nahe, dass die RAF-Terroristin viel früher als bisher bekannt mit dem Verfassungsschutz kooperiert hat. Mord unter den Augen des Staates?

Hans Leyendecker

Manches Geschehnis sieht zunächst wie eine Bagatelle aus, dann wird es durch Medien als Skandal definiert, und am Ende wuchert die ganz große Staatsaffäre. Ein richtiger Skandal von Staats wegen wäre es, wenn vor 33 Jahren eine RAF-Terroristin, die in die Vorbereitungen des Mordanschlags auf den früheren Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seine beiden Begleiter eingebunden gewesen sein soll, auch eine Top-Quelle des Verfassungsschutzes gewesen wäre. Vermutlich hätte sie damals auch von der geplanten Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer erfahren - und dennoch waren die Morde in Karlsruhe, Köln und sonstwo nicht verhindert worden. Eigentlich unvorstellbar.

Buch über Verena Becker: Verena Becker und ihr Anwalt Walter Venedey beim Prozessbeginn im September in Stammheim.

Verena Becker und ihr Anwalt Walter Venedey beim Prozessbeginn im September in Stammheim.

(Foto: AFP)

Der ganz große Skandal aber wäre es, wenn diese sehr freie Mitarbeiterin des Verfassungsschutzes im Fall Buback sogar zur Mörderin geworden wäre, und die Behörden fortan alles getan hätten, um sie zu schützen; selbst dann noch, als die RAF-/Verfassungsschutz-Frau in Haft saß. Auch ihre Begnadigung durch den damaligen Bundespräsidenten wäre zumindest anrüchig gewesen. Vollends skandalös wäre es, wenn bis zum heutigen Tag Bundesanwaltschaft und Verfassungsschutz die Spuren der alten Zusammenarbeit verdecken würden und eine schützende Hand über sie hielten.

Muss die Geschichte neu geschrieben werden?

Wenn das alles so gewesen wäre, bekäme der derzeit vor dem Gericht in Stammheim gegen Becker stattfindende Prozess eine sensationelle Wende: Mord unter den Augen den Staates? Sofort müssten gegen die früher und heute beteiligten Beamten Strafverfahren eingeleitet werden. Die Generalbundesanwältin würde entlassen, und ihre Karlsruher Behörde müsste gründlich ausgemistet werden. Beim Verfassungsschutz wären Konsequenzen notwendig, auch ein Rücktritt der Bundesjustizministerin wäre fällig. Am Ende müsste nicht nur die Geschichte des Deutschen Herbstes, sondern auch die der Bundesrepublik neu geschrieben werden.

Den Weg vom angeblichen Ereignis zum angeblichen Staatsskandal beschreitet jetzt der durchaus renommierte Hamburger Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar in seinem Buch Verena Becker und der Verfassungsschutz. Die erste Reaktion des Rezensentenbetriebs ("Unerhörter Staatsskandal", "Erhellendes Buch", "Akribische" Arbeit) sowie das anschwellende Raunen und ständige Konspirieren der offenbar wachsenden Gemeinde des Michael Buback, der schon lange die ganz große Verschwörung wittert, lassen ahnen, was da alles noch an allerletzten Fragen kommen kann. Kraushaar, Autor lesenswerter Werke wie 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur oder Die RAF und der linke Terrorismus, versucht bei seinem offenkundig in der Archiv-Werkstatt erstellten Buch einen Trick: Er listet über viele Seiten angebliche Indizien für den Verfassungsschutz-Verdacht auf und erklärt dann am Ende, er habe "keinen Beleg für eine Informantentätigkeit Verena Beckers für den Verfassungsschutz vor 1977". Er wolle "auch nicht suggerieren, dass es so gewesen sein" müsse, doch sein Verdacht sei und bleibe "eine begründete Vermutung".

Zwei Fragen drängen sich auf: Wann sind Skandalierer für das Ausmaß ihres Skandalierens verantwortlich? Warum stoßen Verschwörungstheorien bei einem breiten Publikum auf so großes Interesse - ist es aus Langeweile? Großverfahren wie der Fall Buback schleppen viel Geröll mit sich, und am Ende kann sich auch eine große Linie, die es mal gab, in viele kleine Striche auflösen. Es gibt manchmal Schräglagen zu bestaunen, aber Abgründe?

Die vorgeblich begründete Vermutung Kraushaars, die ein Bild und einen großen Strich ergeben soll, gründet auf einem der wirklich großen Skandale der Republik: der Ermordung des Studenten Ulrich Schmücker 1974 im Berliner Grunewald. Der 22-jährige Ethnologe, der gleichzeitig V-Mann des Verfassungsschutzes und Mitglied der illegalen "Bewegung 2. Juni" war, war in der Szene unter Spitzelverdacht geraten und wurde hingerichtet. Die vermeintliche Tatwaffe, eine Parabellum 08, landete noch in der Mordnacht beim Verfassungsschutz, und die Behörde ließ die Waffe für 15 Jahre im Tresor verschwinden. Richter, die sich später um Aufklärung bemühten, erfuhren viele Jahre lang nichts von der Waffe. Der Mord ist bis zum heutigen Tag nicht aufgeklärt, weil es in Berlin ein Komplott von Verfassungsschutz, Polizei und Justiz gab und vielleicht immer noch gibt. Das Berliner Landesamt für Verfassungsschutz agierte früher zeitweise außerhalb der Verfassung, hatte aber erstaunliche Zugänge zu Terror-Leuten, die ihre Kumpane verpfiffen.

Blaupause für den Fall Becker

Im Fall Schmücker sieht Kraushaar die Blaupause für den Fall Becker. Die damals blutjunge Berliner Telefonistin, die von den Anarchos der "Schwarzen Hilfe" zur "Bewegung 2. Juni" gewechselt war und wegen eines Bombenanschlags in Haft saß, soll wie alle anderen Inhaftierten im Gefängnis Besuch vom Berliner Verfassungsschutz bekommen haben, der linke Militante anwerben wollte.

Wenn damals also ein gewiefter Verfassungsschützer eine verwirrte, junge Fanatikerin traf, da war doch alles möglich, oder? Michael ("Bommi") Baumann, der einst in einem langen schwarzen Ledermantel und mit Knarre für die Bewegung unterwegs war, lässt sich von Kraushaar zitieren: Er vermute, Becker sei bereits in ihrer ersten Haftzeit im Sommer 1972 vom Staatsschutz angeworben worden. Beweise werden dafür nicht geliefert. Das ist die Folie für alle folgenden Verschwörungstheorien.

Mit der Frage, ob die ehemalige Terroristin Becker, die 1977 nach einer Schießerei in Singen festgenommen wurde, davor heimlich mit der Staatsmacht kooperiert hat, haben sich in den vergangenen Jahren auch diverse Behörden beschäftigt. Im August 2007 teilte die Berliner Senatsverwaltung für Inneres - Abteilung Verfassungsschutz - der Bundesanwaltschaft mit, in ihren Unterlagen gäbe es keinen Hinweis auf eine solche Zusammenarbeit. Ende 2008 erklärte das Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz, in der Zeit von 1972 bis 1980 habe es eine solche Zusammenarbeit nicht gegeben. Von 1981 an hat dann, das ist amtlich, Becker mit der Staatsmacht kooperiert. Im Jahr 1983 wurde sie aus der RAF ausgeschlossen.

In Stasi-Unterlagen fand sich ein Hinweis, der von Kraushaar auch zitiert wird. Becker werde seit 1972 von westdeutschen Behörden "bearbeitet bzw. unter Kontrolle gehalten" - also doch? Die Birthler-Behörde hat die Unterlagen gesichtet und dann Karlsruhe mitgeteilt, diese beiden Begriffe meinten im Sprachgebrauch des Ministeriums für Staatssicherheit keineswegs eine Zusammenarbeit mit Behörden. Kraushaar findet die Feststellung unglaubwürdig. Warum? Die Bundesanwälte haben auch den für die Eintragung zuständigen ehemaligen Stasi-Mitarbeiter vernommen. Der erklärte, die Stasi habe keine Kenntnis von einer solchen Zusammenarbeit gehabt.

Wer empfänglich für Theorien über große Verschwörungen und die perfekte Konspiration ist, wird in den Dementis der Behörden den Beleg für den Verdacht finden. Gegen solche Paranoia ist kein Kraut gewachsen. Als weiteres Indiz für die unheimliche Liaison gilt Kraushaar ein Satz aus einer Haftverfügung Beckers: "Den Beamten des Bundeskriminalamts - Abteilung TE - ist es gestattet, die Beschuldigte jederzeit zu sprechen und zwecks Ermittlungshandlungen auszuführen."

Das klingt, als hätten die Terror-Ermittler zu ihr einen besonderen Zugang gehabt. Akten aus anderen Verfahren zeigen, dass es sich um eine seit Jahrzehnten vom Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs verwendete Formel handelt, die auch heute noch gilt. In einer Haftverfügung des BGH aus dem September 2008 heißt es fast gleichlautend: "Die mit den Ermittlungen beauftragten Beamten des Bundeskriminalamts sind berechtigt, den Beschuldigten jederzeit zu sprechen und zwecks Ermittlungshandlungen auszuführen."

Höchst verdächtig ist nach Meinung des Politikwissenschaftlers, dass Behörden falsche Angaben über die Haftstationen der Becker gemacht hätten. Statt, wie angegeben, in der Frauenhaftanstalt Frankfurt-Preungesheim sei Becker in Stammheim inhaftiert gewesen und habe dort Kontakt zur früheren RAF-Terroristin Gudrun Ensslin gehabt. Sollte sie "die zweite Führungsfrau aus der RAF-Spitze aushorchen?"

Die Antwort erscheint simpel: Die Behörden befürchteten damals bei Verena Becker Suizidgefahr. Deshalb wurde sie mit anderen Gesinnungsgenossinnen zusammengelegt. Der Autor tanzt mit den Verdächtigungen einen heißen Tango, und wer ihm dabei folgen will, muss zwangsläufig ins Straucheln geraten. Für diese Art von Logik gibt es niemals den richtigen Gegenbeweis, weil die amtliche Mitteilung nur eine neue, noch raffiniertere Form der Desinformation ist. So irrlichtert der Verdacht weiter durch das Buch.

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