EU:In Brüssel ist die Krise zum Normalzustand geworden

A giant European Union flag hangs from La Pedrera to celebrate European Union Day in central Barcelona

Kein Grund zur Panik: In Brüssel versucht man zu beschwichtigen, doch weiß jeder, dass die politische Krise in Italien das Potenzial für eine neue Euro-Krise birgt.

(Foto: Albert Gea/Reuters)
  • Nach dem Referendum in Italien versuchen die Euro-Finanzminister zu beruhigen.
  • Insgeheim befürchten aber viele EU-Politiker, dass Italien eine neue Euro-Krise verursacht.
  • Im kommenden Jahr stehen Wahlen in den Niederlanden, in Deutschland und in Frankreich an. Jedes Mal wird dabei auch über die EU abgestimmt.

Von Daniel Brössler, Thomas Kirchner und Alexander Mühlauer

Er wird fehlen. So viel kann man jetzt schon sagen. Matteo Renzi war zwar nie besonders nett zu "denen da in Brüssel"; er ging ihnen regelmäßig dermaßen auf die Nerven, dass es sogar Jean-Claude Juncker, dem in Italienfragen besonders nachsichtigen EU-Kommissionspräsidenten, zu viel wurde: "Je m'en fous", sagte Juncker über Renzi, was so viel heißt wie: "Der kann mich mal."

Mit Renzi war es schwierig in der EU. Ohne Renzi aber wird vieles schwieriger, manches unmöglich. Vielleicht sind das gescheiterte Referendum in Italien und der Rücktritt des Premierministers der eine Schlag zu viel, das kann an diesem kalten, sonnigen Tag in Brüssel noch keiner sagen. Insgesamt aber, so viel ist sicher, wird langsam alles ein bisschen viel. Auch für Europas politisches Nervenzentrum Brüssel, für das der Krisenmodus seit Jahren der Normalzustand geworden ist.

Die Bilanz am Montag ist ernüchternd: Die EU bekommt Verstärkung aus dem kleinen Österreich, verliert aber unübersehbar an Boden in einem der drei großen Länder der Post-Brexit-EU. Psychologisch war der Sieg des Grünen Alexander Van der Bellen über den Rechtspopulisten Norbert Hofer ungeheuer wichtig. Man kann für die EU sein und Wahlen gewinnen. In Brüssel ist mit Erleichterung aufgenommen worden, dass dieser Beweis mal wieder erbracht worden ist. Er wird, zu Recht oder nicht, nun als Hoffnungszeichen dafür gewertet, dass die EU das nächste Jahr übersteht. Dann wird in den Niederlanden, Deutschland und Frankreich gewählt und immer auch über Europa abgestimmt.

Die EU verliert jemanden, der jedenfalls ein gewisses Maß an Stabilität garantieren konnte

Das ist die eine Seite. Über die andere wird nicht an den Wahlurnen entschieden, sondern in Bankentürmen und Börsensälen. Und da geht es dann wieder um Renzi. So sehr Renzi Juncker und all den anderen in Europas Hauptstadt vorwarf, nichts zu tun, um Italiens Nöte zu verstehen, geschweige denn zu lindern, so sehr verliert die EU nun jemanden, den sie so aus Italien gar nicht kannte: jemanden, der ein gewisses Maß an Stabilität garantieren konnte; jemanden, der Reformen durchsetzte, die sich andere in Europa niemals getraut hätten; jemanden, der für die EU kämpfte, auch wenn er die Brüsseler Beamten mit Vorliebe "Erbsenzähler" nannte.

Die Lage also ist bescheiden. Die Ehrlichkeit spricht dafür, dies offen auszusprechen, die Vernunft womöglich dagegen. Es ist eine Entscheidung, die Wolfgang Schäuble nicht zum ersten Mal zu treffen hat. Es ist kurz vor halb elf, der Finanzminister trifft sich mit seinen Kollegen der Euro-Zone. Auf der Tagesordnung stehen die Themen Budgetpläne und Griechenland, das Übliche. Doch nun geht es um ein Land, das die Sorgen um Athen ganz klein erscheinen lässt: Italien. Schäuble, der um die Wirkung seiner Worte weiß, sagt das, was ein Finanzminister sagen muss: "Es gibt keinen Grund, von einer Euro-Krise zu reden." Und es gebe "ganz sicher keinen Grund, diese herbeizureden". Die Situation an den Finanzmärkten sei entspannt. Das ist sie dann auch. Die Botschaft an diesem Montag in Brüssel: kein Grund zur Panik.

Wirklich nicht?

Die EU führt einen Überlebenskampf gegen die Populisten

Schäuble räumt immerhin ein, dass Italien dringend eine handlungsfähige Regierung brauche. Dann sagt er einen Satz, in dem Bedauern über Renzis Rücktritt mitschwingt: "Italien muss wirtschaftlich und politisch den Weg, den der Ministerpräsident in den letzten drei Jahren gegangen ist, mit großer Konsequenz fortsetzen." Das ist die große Sorge, die Europas Politiker umtreibt: dass Italien wieder das wird, was es früher schon war, ein Land der Instabilität, das aufgrund seiner wirtschaftlichen Größe das Potenzial für eine neue Euro-Krise birgt. Italien hat nach den USA und Japan in absoluten Zahlen die dritthöchste öffentliche Verschuldung weltweit. Der Schuldenstand beläuft sich auf rund 2,2 Billionen Euro. Der europäische Rettungsfonds ESM wäre hier überfordert, falls die Finanzmärkte das Vertrauen in das Land verlieren sollten. Zum Vergleich: Griechenland hat "lediglich" eine Verschuldung von rund 314 Milliarden Euro.

Auch die EU-Kommission versucht, jegliche Dramatisierung zu vermeiden. Die Euro-Krise könnte zurückkommen, die Stabilität der Währung ist in Gefahr? "Die relevanten Autoritäten sind vorbereitet auf solche Situationen", sagt ein Sprecher der Kommission. Ansonsten sind alle offiziellen Brüsseler Äußerungen von der verständlichen Absicht getragen, das (gute) österreichische Ereignis als Aufschwung für die europäische Sache zu deuten, das (negative) italienische Resultat aber als rein innenpolitisch motiviert. In Italien sei es nur um die "Änderung der Verfassung" gegangen, meint der Sprecher von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, während aus Alexander Van der Bellens Sieg eine "deutliche Aussage" hervorgehe über die Art und Weise, wie die Bürger des Landes über Europa dächten. Hätte Renzi gewonnen und Van der Bellen verloren, wer weiß, vielleicht hätte die Kommission genau anders herum argumentiert.

Die Verführung ist groß nach diesem europäischen Wahltag, genau jene Schlüsse zu ziehen, die am bequemsten sind. Mit dem Erfolg Van der Bellens habe "Europa in dieser schwierigen Phase einen wichtigen Sieg errungen", lobt Udo Bullmann, der Chef der SPD-Gruppe im Europäischen Parlament. Er hoffe, "dass das positive Signal aus Österreich auch auf die bevorstehenden Wahlen in den Niederlanden und Frankreich ausstrahlt", also die EU-Feinde Geert Wilders und Marine Le Pen nicht an die Macht kommen mögen.

Kann Geert Wilders in den Niederlanden eine Dynamik auslösen, die zum Nexit führt?

Jeder in Brüssel kann die 2017 anstehenden nationalen Wahltermine ohne Nachdenken herunterrattern. Im März: Wahl in den Niederlanden. Dort liegt der Populist Wilders entweder an der Spitze oder auf Platz zwei der Umfragen. Premier kann er kaum werden, weil keiner mit ihm koalieren möchte. Dennoch könnte eine hohe Stimmenzahl für Rechts- wie auch Linkspopulisten eine Dynamik auslösen, an deren Ende ein Referendum über den Nexit stünde. Ähnlich sieht es in Frankreich aus. Bei der Präsidentenwahl im Mai werden vielleicht mehr als 40 Prozent einer rechtsextremen Demagogin folgen.

Die EU steckt mitten in einem existenziellen Kampf gegen die Populisten. Panik will sie nicht erkennen lassen. Italien müsse, sagt Euro-Gruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem, in naher Zukunft "Schritte unternehmen, die sicherstellen, dass der Haushalt im Einklang mit den Erfordernissen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes steht". Das klingt, wie es soll: nach Alltag.

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