Brüssel:Eine klar vernehmliche Stimme

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Ska Keller kam 2009 als Studentin nach Brüssel, im vergangenen Jahr war sie Spitzenkandidatin der europäischen Grünen. (Foto: Peter Endig/dpa)

Ska Keller macht für die Grünen in Brüssel Flüchtlingspolitik und kämpft für eine Reform der Gesetzgebung von Dublin.

Von Thomas Kirchner, Brüssel

Fast leer sind die Gebäude an der Brüsseler Rue Wiertz, in denen die EU-Abgeordneten arbeiten. Urlaubszeit. Ska Keller, in Jeans und T-Shirt, empfängt im fünften Stock, wo die Grünen sitzen, und schlägt vor, auf dem Flur zu reden. Da stört jetzt keiner.

Um Flüchtlingspolitik soll es gehen, ihr Thema. Die beiden anderen sind Handel, also vor allem das geplante TTIP-Abkommen mit den USA, sowie die Beziehungen zur Türkei. Das garantiert Aufmerksamkeit, aber die hat sich die 33 Jahre alte Brandenburgerin auch anderweitig geholt. In Deutschland breiter bekannt wurde sie vor der Europawahl im vergangenen Jahr, als sie mittels einer Online-Abstimmung zur Spitzenkandidatin der europäischen Grünen gewählt wurde. Ansonsten hat sie als migrations- und handelspolitische Sprecherin der Fraktion ihre Arbeit im Parlament erledigt, Berichte verfasst, Mehrheiten organisiert. So ist aus dem Nachwuchstalent, das 2009 als Studentin nach Brüssel kam, eine klar vernehmliche Stimme im Parlament geworden. Sie spricht fünf Fremdsprachen, ist gut vernetzt - und nie verlegen um pointierte Kommentare.

Für syrische Familien müsse die Visumspflicht entfallen: "Das ist nach EU-Recht möglich."

"Hanebüchene Blamage", "komplettes Desaster", schimpfte Ska Keller vor zehn Tagen, nachdem sich die EU-Innenminister wieder nicht über eine Verteilung von 40 000 Flüchtlingen einig geworden waren. Im EU-Parlament war es vergleichsweise leicht gewesen, selbst konservative Kollegen für den Vorschlag der EU-Kommission zu begeistern. Im Ministerrat verweigerten viele Staaten dann die Solidarität, vor allem osteuropäische. Deren Politiker berufen sich auf die ablehnende Haltung ihrer Bevölkerung. "Aber deren Ängste werden von politischen Parteien gezielt geschürt", sagt Keller, "auch in Deutschland." Die Bundesregierung hingegen erhält ein Lob von der Grünen. "Berlin hat bisher immer auf der Bremse gestanden, ob bei der Asylrichtlinie, als es um die Frage ging, wie schnell die Flüchtlinge wieder arbeiten können, oder bei der Reform von Dublin. Bei der Umverteilung spielt Deutschland eine gute Rolle. Wenn es 10 500 Flüchtlinge aus Griechenland und Italien aufnimmt, ist das zwar eher symbolisch, aber Symbole sind auch wichtig."

Die Ideen der EU-Kommission, die Ende Mai ihre "Europäische Migrationsagenda" vorlegte, nennt Keller unausgewogen. "Sie setzt stark auf Abschreckung, auf die Bekämpfung der Schlepper mit militärischen Mitteln. Aber was legale Zugangswege für Flüchtlinge betrifft, steht wenig drin." 22 000 Flüchtlinge sollen direkt aus Syrien und Eritrea aufgenommen werden. "Angesichts von fast zwei Millionen Syrern, die allein in der Türkei sind, ist das schon sehr wenig." Die Idee mit der Umsiedlung ziele in die richtige Richtung. "Aber da müssen ganz andere Zahlen her. Das Flüchtlingshilfswerk der UN sucht händeringend Plätze für 300 000 Menschen." Daneben solle die EU mehr humanitäre Visa vergeben, sagt Keller. Diese könnten Flüchtlinge in EU-Botschaften in ihrer Heimat oder im Nachbarland erhalten und damit ungefährlich Asyl in Europa beantragen. Für syrische Familien müsse die Visumpflicht sogar ganz entfallen, meint Keller. "Das ist alles nichts Revolutionäres, sondern laut EU-Recht längst möglich."

Wie also sähe eine bessere, humanere Flüchtlingspolitik aus? "Wir brauchen ein wirklich gemeinsames Asylsystem, mit gleichen Standards für Anerkennung, Unterbringung und die Verfahren der Flüchtlinge", sagt Keller. "Sonst bleibt das ein Lotteriespiel. Wir brauchen legale Zugangswege. Und wir müssen die Fluchtursachen effektiv bekämpfen, nicht die Flüchtlinge." Daneben müsse das Dublin-System reformiert werden, wonach ein Flüchtling nur in einem Land Asyl beantragen kann, nämlich da, wo er europäischen Boden betritt. "Die Grundidee ist: Die Flüchtlinge dürfen weitgehend bestimmen, wo sie hinwollen. Und dann muss man eben den Ausgleich zwischen den Staaten organisieren. Mit Geld, obwohl das heikel ist, weil sich manche Länder lieber freikaufen. Oder indem man große Flüchtlingsgruppen in ein Land schickt, etwa ein ganzes syrisches Dorf nach Lettland."

Im Prinzip will die EU viele dieser Punkte demnächst angehen. Ende des Jahres wird die EU-Kommission einen Vorschlag für ein dauerhaftes Umsiedlungssystem machen. Damit würden die Flüchtlinge im Falle eines Massenzustroms nach festen Kriterien auf die Mitgliedstaaten verteilt. Hierbei und bei der unerlässlichen Dublin-Reform hätte das EU-Parlament ein Mitentscheidungsrecht. Das Problem: Einige Staaten werden versuchen, die Vorschläge möglichst vollständig zu blockieren.

Das ist das Paradox in der Flüchtlingspolitik: Mehr und mehr wird sie als europäisches Thema erkannt, das auf der europäischen Ebene behandelt werden muss. Alle schauen nach Brüssel, wo Politiker wie Ska Keller entsprechend mehr Gehör finden. "Aber die Staaten handeln nicht danach", klagt die Grünen-Politikerin. "Sie sagen nur alle: Wir haben schon ganz viele Flüchtlinge, wir wollen nicht noch mehr. Das ist absurd."

© SZ vom 30.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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