Briten in Deutschland:"Wir könnten zu Inselaffen werden"

Adam Wakeling

Adam Wakeling, 42, lebt als Dokumentarfilmer in Berlin.

(Foto: Thorsten Denkler)

Mehr als 100 000 Briten leben in Deutschland. Als EU-Bürger dürfen sie hier wohnen und arbeiten. Vier von ihnen erzählen, was sie im Falle eines Brexit befürchten.

Von Thorsten Denkler und Julia Ley

Adam Wakeling, 42, Dokumentarfilmer aus London: Als 17-Jähriger bin ich mit einem Interrail-Ticket durch Europa gefahren. Der Gedanke über Grenzen hinwegzufahren, die über die Jahrhunderte immer wieder neu gezogen wurden, hat mich beeindruckt. Die EU erscheint mir als Bereicherung. Beim Referendum werde ich deshalb dafür stimmen, in der Union zu bleiben. Aber ich streite oft mit britischen Freunden darüber. Ihre Argumente ändern sich ständig, meist geht es um Migration. Sie haben Angst, dass aus dem Rinnsal von Migranten, das es auf die Insel schafft, ein Strom wird. Das ist unwahrscheinlich, aber um Fakten geht es in dieser Debatte ohnehin nicht. Es geht um Emotionen.

Wir Briten reagieren beim Thema EU oft irrational. Das liegt daran, dass wir uns unsere Inselmentalität bewahrt haben. Es ist etwas widersprüchlich: Obwohl wir Briten aufgrund unserer Kolonialgeschichte immer "global" gedacht haben, haben wir uns auf unserer kleinen Insel auch immer sehr sicher gefühlt. Bei jüngeren Briten, die viel herumreisen, nimmt das ab. Sie haben verstanden, was es bedeutet, Teil eines größeren Ganzen zu sein. Aber wenn wir die EU verlassen, könnte sich dieser Effekt wieder umdrehen. Wir könnten tatsächlich zu den 'Inselaffen' werden, als die man uns oft bezeichnet.

Viele ältere Menschen sehen die EU auch jetzt schon negativ. Sie fühlen sich belagert. Sie glauben, dass die Insel von Migranten, Vergewaltigern und Sozialbetrügern überschwemmt wird. Dahinter steckt Angstmacherei. Aber so funktioniert Politik, sie spielt mit der Macht der Albträume. Und die instinktive Reaktion der Menschen ist, sich hinzukauern und Mauern hochzuziehen. Das ist das wichtigste Argument der Leave-Kampagne: "Wir kümmern uns um uns selbst. Zur Hölle mit den anderen."

Ich frage mich, wie die Menschen in Deutschland mich wahrnehmen werden, wenn es zu einem Austritt kommt. Vor allem, wenn das auch Folgen für die deutsche Wirtschaft haben sollte. Werden sie mit dem Finger auf mich zeigen und sagen: "Was zum Teufel macht ihr Briten da? Habt ihr keinen Respekt für das, was wir hier geschaffen haben?"

Wir leben heute in einer zerbrochenen Welt. Jetzt stehen wir vor einer Entscheidung: Wollen wir uns in unsere Löcher zurückziehen und einander mit Misstrauen begegnen? Oder wollen wir gemeinsam nach vorne schauen und auf etwas Besseres hinarbeiten? Ich glaube, dass die größere Hoffnung in einer gemeinsamen Zukunft liegt.

Matthew: "Ich will kein Einwanderer sein"

Matthew Milbourne, 31, selbständiger Lektor aus London: Ich lebe jetzt seit knapp zwei Jahren in Deutschland. Als meine Freundin schwanger wurde, bin ich nach Deutschland gezogen. Fast von einem Tag auf den anderen. Ich hab meine Sachen gepackt, ein Ticket gebucht und ein neues Leben in Berlin angefangen. Weil es die EU gibt, war das möglich. Ich musste mich nie bewusst für Deutschland entscheiden oder etwas dafür aufgeben. Ich konnte es ausprobieren. Als EU-Bürger habe ich das Recht, hier zu sein. Das ist mehr als eine Formalie, es gibt mir einen Platz in dieser Gesellschaft.

Matthew Milbourne

Matthew Milbourne will sich nicht als Migrant fühlen müssen.

(Foto: Thorsten Denkler)

Bei meinen Eltern war das anders. Mein Vater ist als Teenager aus Südafrika nach England eingewandert, meine Mutter wuchs in Schottland auf. Sie beide haben sich bewusst für England entschieden und mussten einen Platz in einem Land finden, das gerade erst lernte, mit Unterschieden umzugehen. Sie sind nie ganz angekommen.

Vielleicht bin ich deshalb voreingenommen, aber ich will kein Einwanderer sein. Das Gefühl an einen Ort "zu gehören", ist mir wichtig. Damit meine ich nicht, dass man aufhören sollte, sich mit diesem Ort auseinanderzusetzen. Aber ich bin schon zu alt, um noch Deutscher zu werden. Ich möchte für die Freunde meiner Tochter nicht der seltsame Vater sein, der nur schlecht Deutsch spricht. Müsste ich mich entscheiden, würde ich mich deshalb für England entscheiden. Denn im Gegensatz zu meinen Eltern fühle ich mich englisch. Aber ich habe lange gebraucht, um meinen Frieden mit einer Kultur zu schließen, die noch immer mit ihrer kolonialen Vergangenheit kämpft. Und mit dem Multikulturalismus, der daraus gewachsen ist. Ich habe nicht die Energie, das noch einmal zu machen.

Dank der EU muss ich das nicht. Ich bin jetzt eben ein Brite, der in Deutschland lebt. Ein EU-Bürger, wie alle anderen auch. Die Realität des Migrantenseins wird dadurch abgeschwächt. Weil ich die Kontrolle habe. Ich kann hier leben, meine Tochter in den Kindergarten bringen, Sozialhilfe beantragen und mich als Lektor selbständig machen. Und ich kann jederzeit nach Hause fahren. Meine Rechte sind die gleichen wie in England. Es liegt eine große Freiheit darin, etwas Neues haben zu können, ohne das Alte aufgeben zu müssen.

Manchmal stelle ich mir vor, wie ich mich am Tag eins nach dem Referendum fühlen werde. Ich glaube, ich werde stolz sein, wenn wir in der EU bleiben. Wir Briten hätten dann eine starke Botschaft gesendet: "Es gibt Dinge, die wir nicht mögen, aber hey Leute, wir lieben euch. Wir wollen Teil dieses Projekts sein."

Jon: "Ich werde die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen"

Jon Worth, 36, selbständiger Kommunikationsberater aus Newport, Wales: Meine Eltern haben mich früher zum Schulaustausch nach Lahnstein in Rheinland-Pfalz geschickt. Schon damals habe ich ganz gut Deutsch gelernt. Studiert habe ich in Oxford und Brügge. Danach war ich immer wieder in Deutschland. Seit 2013 lebe ich jetzt in Berlin. Dazwischen habe ich einige Zeit in Kopenhagen und Brüssel gelebt. Berlin ist aber für meinen Job der spannendste Ort.

Die Europäische Union macht mein Leben viel, viel einfacher. Als selbständiger Kommunikationsberater habe ich Kunden in Rumänien, Italien, Belgien, Dänemark und natürlich auch in Deutschland. Für mich gehört es zum Alltag, in Europa unterwegs zu sein, Verträge zu machen, Rechnungen zu schreiben. Aber ich sehe am Beispiel von Freunden, die aus den USA hergekommen sind, wie schwierig das ohne EU-Pass sein kann. Vor allem als Selbständiger. Ich will nicht zu einem Bürgeramt gehen müssen, um nach einer Arbeitserlaubnis zu fragen. Solange Großbritannien Mitglied in der EU ist, habe ich ein Recht darauf, überall zu arbeiten.

Jon Worth aus Newport, Südwales

Jon Worth, 36, selbstständiger Kommunikationsberater aus Newport, Südwales

(Foto: Thorsten Denkler)

Was sich genau nach einem Brexit ändern würde, kann ich noch nicht abschätzen. Aber ich stelle mich darauf ein, dass ich dann die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen werde. Im Oktober 2019 bin ich lange genug in Deutschland. Das scheint der einzige Weg zu sein, um EU-Bürger bleiben zu können. Ich muss dann nur die Zeit zwischen einem faktischen Austritt im Juni 2018 und Herbst 2019 überbrücken. Aber das wird schon irgendwie gehen."

Kate: "Für mich ist der nationalistische Blick bedeutungslos"

Kate McNaughton, 37, Autorin und Übersetzerin, aufgewachsen in Sèvres bei Paris: Ich dachte immer, ich kenne niemanden, der für einen Brexit stimmen würde. Denn ich selbst lebe sehr international: Meine Eltern sind zwar Briten, aber ich bin in Paris aufgewachsen, jetzt lebe ich in Berlin. Dann passierte etwas Interessantes: Ich habe ein paar Studienfreunde in London, die sich regelmäßig Rundmails schicken. Einer von ihnen fragte, wie wir zu einem Austritt stünden. Und ein paar argumentierten tatsächlich für einen Austritt: Sollen wir unsere Steuergelder nicht lieber für die Zukunft unserer eigenen Kinder ausgeben als für Menschen in Rumänien? Dieser Egoismus hat mich überrascht. Schließlich sind das alles Leute, die in Oxford und Cambridge studiert haben, mit gut bezahlten Jobs in London. Die sind nicht sauer, weil ihr Klempner Polnisch spricht.

Kate McNaughton

Kate McNaughton ist überrascht, wie viele Freunde für den Brexit sind.

(Foto: Thorsten Denkler)

Da ich neben der britischen auch die französische Staatsbürgerschaft habe, mache ich mir selbst nicht allzu viele Gedanken um die rechtlichen Folgen eines Austritts. Sollte Schottland sich danach abspalten, um der EU wieder beizutreten, könnte ich sogar noch einen Pass hinzubekommen. Nein, im Ernst, mich interessiert eher der kulturelle Aspekt der Debatte. Es fällt mir schwer zu verstehen, dass Menschen sich jetzt wieder in ihre eigenen, kleinen Nationalismen zurückziehen. Für mich ist der nationalistische Blick bedeutungslos.

Wir brauchen die EU, weil wir gemeinsam stärker sind. Wen in der Welt würde es sonst interessieren, was Großbritannien denkt? Und ich finde es einfach schön, dass diese 28 Länder, mit ihren Unterschieden und ihrer blutigen Geschichte, seit siebzig Jahren keinen Krieg mehr geführt haben. Es ist sehr kurzsichtig zu denken, dass so etwas nicht wieder passieren kann. Der Aufstieg der rechtsradikalen Parteien in Europa macht mir Angst, genau aus diesem Grund. Die Menschen in Wien haben 1912 auch nicht gedacht, dass in zwei Jahren die Hölle losbricht.

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