Brexit-Referendum:Im Gehen ruft er noch: "Leave! Leave! Leave!"

An manchen Brexit-Befürwortern beißt Campaigner Mark sich die Zähne aus. Nichtwähler Tom geht diesmal wählen. Und Luise weiß, was Europa braucht. Ein Blick ins Herz des Königreichs.

Eine Reportage von Thorsten Denkler, London

Im Gehen ruft der Mann noch: "Leave! Leave! Leave!" Das Gespräch zwischen ihm und Mark Irwin, 37, ist beendet. Mark hat alles versucht, den Mann zu überzeugen. Er hat ihm gesagt, warum es gut ist, in der Europäischen Union zu bleiben. Und dass sein Geld nicht sicherer sein wird, wenn Großbritannien die EU verlässt. Und dass er doch selbst Migrant ist. Wie er dann die Anti-Migranten-Kampagne der Leave-Seite mit seiner Stimme unterstützen kann. Es hilft nichts.

Es ist später Donnerstagnachmittag, 23. Juni 2016. Der Tag, an dem Großbritannien womöglich dafür stimmt, aus der EU austreten zu wollen. Oder der Tag, nach dem alles erstmal beim Alten bleiben kann. Die Wahlokale haben noch bis 22 Uhr Ortszeit auf.

Brexit-Referendum: Mark Irwin, 37, will die Engländer noch auf den letzten Drücker dazu bringen, für Remain zu stimmen.

Mark Irwin, 37, will die Engländer noch auf den letzten Drücker dazu bringen, für Remain zu stimmen.

(Foto: Thorsten Denkler)

Mit fünf weiteren Campaignern steht Mark vor dem Zugang zum Bahnhof an der Whitechapel Road. Auf einem Tischchen ein paar Flyer, ein paar Sticker, Info-Material. Alle tragen das blaue T-Shirt ihrer Kampagne: "Vote Remain" steht darauf, stimme für den Verbleib. Mit dem Zusatz "Today" in roter Schrift, heute.

Der Mann, der ihm gerade noch gegenüber stand und jetzt weitergegangen ist, ist zwei Köpfe kleiner als der hochgewachsene Mark. Pakistanischer Abstammung wahrscheinlich, wie viele, die hier rund um die Bahnstation Whitechapel nordöstlich der Londoner City leben. Anzug trägt er, Krawatte, smarte Brille mit schwarzem Gestell.

Er ist nicht allein mit seinem Wunsch nach einem Brexit, einem Austritt des Vereinten Königreichs aus der EU. Viele Migranten aus den ehemaligen britischen Kolonien wollen nicht noch mehr Migranten im Land. Nicht aus Sorge vor Überfremdung. Eher aus Sorge um den eigenen Arbeitsplatz. Jobs in Großbritannien sollten den Briten vorbehalten sein, finden sie. Und ein Pakistani ist ja wohl mehr Brite als ein Rumäne oder ein Pole, oder?

"Die Leute brauchen etwas, das sie hassen können"

Dass Großbritannien auch weiterhin Arbeitnehmer aus der EU wird ins Land lassen müssen, wenn es Zugang zum europäischen Binnenmarkt haben will, das hat der Mann Mark nicht geglaubt.

Die Sorge vor zu vielen anderen Arbeitskräften? Alles irrationale Ängste, findet Mark. Später sagt er, dass Vieles gerade schlecht läuft im Vereinigten Königreich. "Die Leute brauchen da etwas, das sie hassen können. Und da ist jetzt nunmal die Europäische Union."

Mark will eigentlich niemanden umstimmen, der nicht umzustimmen ist. Er will mobilisieren. All jene, die entschieden sind für die Remain-Seite. Aber die glauben, ihre Stimme zähle nicht. Das nächste Wahllokal ist nur ein paar Meter entfernt. Manche überzeugt er, wählen zu gehen. Dann schickt er sie dahin. Anderen ruft er hinterher: "Jede Stimme zählt!"

Robert aus Polen: "Ich gehe dahin, wo Arbeit ist"

Szenenwechsel: Drei Kilometer weiter westlich vor der polnischen Botschaft in der Bouverie Street. Die Europa-Flagge hängt schief an dem Gebäude. Die polnische Flagge hat sich komplett um den Fahnenmast gewickelt. Müsste mal jemand richten.

Robert kommt zurück, er will noch eben ein Selfie für seine Nichten in Polen machen. Denen hat Robert gerade am Telefon gesagt, dass er mit einem deutschen Journalisten gesprochen hat. Die Nichten wollen ein Beweisfoto: Robert, der Journalist und dahinter das Wappen der polnischen Republik an der Botschaft. Seinen Nachnamen behält er dennoch lieber für sich.

Brexit-Referendum: Robert aus Wrocław vor der polnischen Botschaft in London

Robert aus Wrocław vor der polnischen Botschaft in London

(Foto: Thorsten Denkler)

Robert gehört zu den Migranten, die manche Briten nicht mehr haben wollen. Die aus Osteuropa. Die Polen sind die zweitgrößte Einwandergruppe nach den Indern. Polnisch ist die am meisten gesprochene Sprache im Vereinigten Königreich. Nach Englisch. Ob Polen allerdings schon zu Osteuropa gehört, darüber ließe sich streiten. Rob, wie er sich hier nennt, ist das egal.

"Ich gehe dahin, wo Arbeit ist", sagt Rob. Ein sehr europäisches Selbstbewusstsein, das er da an den Tag legt. Er ist CNC-Fräser. Ein gefragter Beruf. Trotzdem arbeitet er zwölf Stunden und mehr am Tag. Würde kein Brite machen. Wenn ihn die Briten nicht länger haben wollen, dann eben nicht. Dann geht er nach Deutschland oder Norwegen. Da hat er auch schon gearbeitet.

Seit vier Jahren lebt er in Großbritannien, in Wales. Seine Familie ist auch da, seine Kinder gehen hier zur Schule. Und was sagen die? "Kann ich nicht ändern", sagt er. "Es ist nicht meine Entscheidung, ob es zum Brexit kommt." Nur eines ist klar: Wenn am Freitagmorgen die Brexit-Befürworter die meisten Stimmen haben, dann geht er dahin zurück, wo seine Arbeitskraft geschätzt wird. Nach Europa.

Tom Yarrow: "Ich stimme für Out"

Die Wahllokale haben gerade aufgemacht. Es ist kurz nach sieben Uhr. Es regnet. Toms Regenschirm leuchtet von Weitem in den Farben Großbritanniens. Weiß, blau und rot.

Brexit-Referendum: Tom Yarrow, 80, geht wählen. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten.

Tom Yarrow, 80, geht wählen. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten.

(Foto: Thorsten Denkler)

Tom Yarrow trägt Gummistiefel dazu. Sein gelblicher, durchaus ungepflegter Vollbart passt zu der rauen Gegend hier. Tower Hamlets, nordöstlich der Londoner City. Jack the Ripper soll hier sein Unwesen getrieben haben. Heute leben viele Muslime hier. Frauen gehen vollverschleiert und in männlicher Begleitung die Straßen entlang. Seit zehn Jahren haben die Hipster den Stadtteil entdeckt. Die Gentrifizierung verändert das Gesicht von Tower Hamlets.

Tom ist auf dem Weg in sein Wahllokal hier in der John-Scurr-Grundschule, Cephas Street. Es regnet immer noch wie aus Eimern. Er nimmt sich die Zeit. Tom geht zum ersten Mal seit Jahrzehnten überhaupt wählen. Ein notorischer Nichtwähler eben. Auch damals hat er nicht mitgemacht, als sein Land 1975 das erste Referendum über die Mitgliedschaft zur damaligen Europäischen Gemeinschaft abhielt.

Und jetzt, warum ausgerechnet jetzt? Weil es eine Chance sei, ganz viel auf einmal wieder geradezurücken. Tom, ein ehemaliger Tierarzt, sagt: "Ich glaube nicht, dass die Leave-Seite gewinnt. Aber ich stimme trotzdem für Out."

Mehr als 46 Millionen Briten können an diesem Donnerstag wählen gehen. Es ist das dritte landesweite Referendum in der Geschichte des Vereinten Königreichs. In 380 Wahlbezirken wird gewählt.

Vier Monate lang haben sich die Leave- und die Remain-Seite einen brutalen Wahlkampf geliefert. Sie haben sich gegenseitig als Lügner beschimpft, haben sich persönlich angegriffen, haben mit falschen Zahlen hantiert. In den letzten Umfragen liegen beide Lager Kopf an Kopf. Viele Briten schienen bis zuletzt unentschlossen zu sein. Auf etwa 15 Prozent wurde diese Gruppe geschätzt. Sie wird wohl den Ausschlag geben für den Ausgang des Referendums.

Die britischen Medien sind am Wahltag zur Zurückhaltung verdammt. Das ist sogar gesetzlich so geregelt. Die BBC schreibt auf ihrer Internetseite, veröffentlicht werden dürfe an diesem Tag nur, was unstrittig ist. Etwa, dass Politiker an ihren Wahllokalen ankommen. Oder die Zahl der Wahlberechtigten. Oder alles über das Wetter.

"Ängela Mörkel" - auch nicht mehr glaubwürdig

Über das Wetter gibt es tatsächlich einiges zu sagen. Gewitter über London und England mit nachhaltigem Regen. Im Stadtteil Chessington ganz im Süden der Hauptstadt musste wegen des starken Regens ein Wahllokal umziehen. Im Süden des Landes sind Straßen überschwemmt worden. Manche Verkehrsverbindung ist unterbrochen.

Sonne und nur ein paar kräftige Schauer dagegen über Nordirland und Schottland. Das Wetter scheint es mit den Gegenden besser zu meinen, die eher auf der Pro-EU-Seite stehen.

Tom nimmt den Regen hin wie wohl alle Londoner. Gehört halt dazu. Warum ist er für den Brexit? Weil sie alle immer nur gelogen haben. Premier David Cameron, der war doch immer gegen die EU. Jetzt wirbt er dafür. Wie soll er dem noch glauben?

Europa? In einem beklagenswerten Zustand, meint Tom. Alles geht den Bach runter. Die Griechen hätten doch längst austreten müssen. Und "Ängela Mörkel", der glauben die Deutschen doch auch nichts mehr, seit sie alle Flüchtlinge ins Land gelassen hat.

Tom vermisst etwas. Alte Größe womöglich. Ein Vorfahre von ihm, Alfred Yarrow, der hat Kriegsschiffe gebaut. Zerstörer und Kanonenboote. Die waren schneller als die meisten Schiffe heute, sagt Tom. Die wurden bis nach Russland und an die Niederländer verkauft. Glanz vergangener Tage. Die Werft gibt es heute so nicht mehr, wurde mal verstaatlicht in den 1970er Jahren, dann verkauft.

Er wirkt nicht wütend oder sonderlich aufgebracht. Eher müde und enttäuscht. Noch Fragen? Nein? Dann dreht er sich um. Wählen gehen. Weil es vielleicht doch irgendetwas ändert.

Luise: "Europe needs a kick up the arse"

Brexit-Referendum: Luise, 66, ist gerade als Lehrerin in Rente gegangen. Sie wünscht sich, dass die Briten in der EU bleiben.

Luise, 66, ist gerade als Lehrerin in Rente gegangen. Sie wünscht sich, dass die Briten in der EU bleiben.

(Foto: Thorsten Denkler)

Luise kommt aus dem Wahllokal. 66 Jahre alt, gerade erst in den Ruhestand versetzt. Praktischer Kurzhaarschnitt, in Würde ergraut. Lehrerin war sie, eine Springerkraft. Sie hat viele Schulen hier gesehen im Bezirk.

Sie kennt Tower Hamlets. Und liebt es. "Es ist großartig hier. So vielschichtig." Ihre Stimme ist samtweich - sie als Lehrerin gehabt zu haben, wäre bestimmt ein Grund, sich mit Wohlwollen an die Schulzeit zu erinnern. Ihren Nachnamen? Den behält sie lieber für sich, aber gegen ein Foto hat sie nichts einzuwenden.

Luise hat gerade für Remain gestimmt. Selbstverständlich. Was denn sonst? - Warum? - Weil die Zusammenarbeit der europäischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg das Beste war, was Großbritannien, was ganz Europa passieren konnte, sagt sie. Die Leave-Seite, die will immer nur mehr Kontrolle zurück. "Aber, was bitte soll das heißen?", fragt sie. "Das ist doch naiv in einer Welt, in der Zusammenarbeit so wichtig ist."

Sie muss los. Aber eines will sie doch noch sagen. Und es klingt überraschend unfein aus ihrem Mund: "Europe needs a kick up the arse" - Europa braucht einen Tritt in den Hintern, damit es den endlich hochbekommt. Heißt? Mehr Demokratie, mehr Transparenz. Sonst sieht es düster aus.

So europäisch wie Luise denken längst nicht alle Briten. Ein Fernbus fährt vorbei. Er verbindet Großbritannien mit Europa, steht darauf zu lesen. Europa, das ist für viele Briten eben etwas anderes als Großbritannien. Festland halt, der Kontinent.

Brexit-Referendum: Conor McCone, 29, hat für Remain, gestimmt, für den Verbleib in der EU. Warum? Er ist Ire.

Conor McCone, 29, hat für Remain, gestimmt, für den Verbleib in der EU. Warum? Er ist Ire.

(Foto: Thorsten Denkler)

Conor McCone: Die Engländer ticken da anders

Nein, widerspricht Conor McCone, nicht die Briten denken so. Es sind die Engländer. Iren, Schotten oder die Waliser, die denken europäisch. Conor, 29, ist Umweltbeauftragter von Beruf. Die EU hat mehr für die britische Umwelt getan, als die Briten es selbst gekonnt hätten, findet er.

Er kommt aus Nordirland, fühlt sich durch und durch irisch. Der rötliche Bart und die blasse Haut hätten kaum etwas anderes vermuten lassen. Er hat für den Verbleib in der EU gestimmt. Die Engländer, sagt er, die ticken da einfach anders. Die glauben, sie seien größer und wichtiger als der Rest der Welt. Er hofft, dass die Leave-Seite verliert. Damit alle wieder auf den Teppich kommen.

Von 22 Uhr an werden die Stimmen gezählt. Erst am frühen Freitagmorgen werden die ersten Ergebnisse erwartet. Ob Großbritannien auf dem Teppich und damit in der EU bleibt? Am Freitagmorgen weiß Conor McCone mehr.

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