Brexit-Reaktionen:Die EU der 28 ist Geschichte

Brexit-Reaktionen: Juncker: Brexit nicht das Ende der EU.

Juncker: Brexit nicht das Ende der EU.

(Foto: AFP)

Durchhalteparolen, Drohgebärden, Schulterzucken. Bei der EU werden gerade einige Szenarien durchgespielt. Aber keiner weiß, wie es nach dem Brexit weitergeht.

Von Daniel Brössler, Thomas Kirchner und Alexander Mühlauer, Brüssel

Zum Frühstück gibt es Eier, Speck und Tories. Die britischen Konservativen haben in ein Brüsseler Hotel geladen, das nur ein paar Hundert Meter entfernt liegt vom Zentrum all dessen, womit eine Mehrheit der Briten nichts mehr zu tun haben will. Syed Kamall, der Fraktionschef der Europäischen Konservativen und Reformer im Europäischen Parlament, sagt: "Nun ist die Zeit, an einem Strang zu ziehen." Wie bitte? Es ist sieben Uhr morgens. Hinter den Abgeordneten und den Journalisten liegt eine Nacht, die sie nicht vergessen werden - und vor der Europäischen Union lauern Monate, vielleicht Jahre der Ungewissheit. Ach was, beruhigt der Brite. "Wir müssen zu einem Ergebnis kommen, das gut ist für Großbritannien und gut für die EU", fährt der Tory fort.

"Dramatischer Augenblick"

So einfach geht das nicht. Donald Tusk weiß das. Er tritt, es ist 8.40 Uhr, als erster Repräsentant der EU-Führung vor die Kameras. "Ich bin mir vollkommen darüber im Klaren", sagt er, "wie ernst, sogar dramatisch der Augenblick ist." Ein historischer Moment sei das, aber sicher keiner für "hysterische Reaktionen". In diesem Satz bündelt sich, was in den vergangenen Tagen und Wochen theoretisch durchgespielt worden ist in Brüssel, sich aber praktisch kaum einer vorzustellen vermochte: dass erstmals in der Geschichte der europäischen Einigung ein Staat seinen Abschied nehmen will von der EU. Im Zentrum fast aller Überlegungen stand bisher der Wille, die EU durch die Erschütterungen nicht ins Wanken geraten zu lassen.

Tusk spricht am VIP-Eingang des Ratsgebäudes, wo die Fahnen aller EU-Staaten drapiert sind. Der Union Jack steht außen rechts. Das ist aus Gründen der alphabetischen Reihenfolge so, doch es passt. Seit den Morgenstunden ist das Vereinigte Königreich schließlich bestenfalls noch halb dabei; die EU der 28 ist Geschichte. Schon auf dem EU-Gipfel am Dienstag und Mittwoch wird der britische Premierminister David Cameron beim interessanteren Teil des Treffens nicht dabei sein. Dann nämlich, wenn es um das "Wie weiter?" geht. "Im Namen der 27 Staats- und Regierungschefs kann ich sagen, dass wir entschlossen sind, unsere Einheit als 27 zu wahren", verspricht Tusk. Und schickt noch hinterher, was sein Vater ihm einst mit auf den Weg gegeben hat: "Was uns nicht umbringt, macht uns nur härter."

Im Europäischen Parlament treffen sich derweil die Fraktionschefs mit Parlamentspräsident Martin Schulz. Gemeinsam schauen sie sich im Fernsehen die Ansprache an, in der ein geschlagener Premier Cameron seinen Rücktritt im Oktober ankündigt. Erst sein Nachfolger solle mit den Austrittsverhandlungen nach Artikel 50 des EU-Vertrages beginnen, sagt er. Die meisten der Fraktionschefs sind entsetzt, ja empört. "Wir wollen einen sofortigen Start der Verhandlungen. Es gilt, eine Periode weiterer Unsicherheit zu verhindern", sagt der Vorsitzende der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber von der CSU, wenig später. Und: "Es muss innerhalb eines Jahres möglich sein, die Verhandlungen abzuschließen. Ich habe kein Verständnis dafür, dass der ganze Kontinent einen internen Machtkampf der Tories abwarten soll." Der Unmut über David Cameron ist groß. Der habe "seine ganze Karriere auf EU-Bashing aufgebaut", sagt Weber. Wohin das führe, sehe man nun.

Ratlosigkeit

Es reicht. Das ist die Stimmung in Brüssel. Aber auch: Ratlosigkeit. Parlamentspräsident Schulz präsentiert sich ungewohnt kleinlaut: "Die Staaten, die bleiben, müssen überlegen, wie sie die Union verbessern und wie sie sie schützen gegen das, was kommen wird." Aber wie? "Wir brauchen jetzt eine engagierte Wachstums- und Beschäftigungspolitik in der EU, die konkrete Ergebnisse für die Menschen bringt", sagt Udo Bullmann, Chef der SPD-Europaabgeordneten. Eine andere Antwort gibt der Liberale Guy Verhofstadt. Er gibt sie schon seit Jahren, und sie wäre exakt die gleiche, wenn die Briten für "Bleiben" gestimmt hätten: Der Belgier will jetzt mehr Europa, eine politische Union, bisher sei die EU ja nicht mehr als ein "loses Bündnis von Nationalstaaten". Verhofstadt gehört zu den wenigen in Brüssel, die fast euphorisch reagieren auf den Abschied der Briten. Nun, sagt er, sei es Zeit für eine "Grundsatzentscheidung". Liberale und Sozialdemokraten wollen nun eigentlich schnell einen Konvent, der die EU-Verträge ändert und die EU noch enger zusammenwachsen lassen soll. "Mehr Europa wäre die falsche Antwort", warnt dagegen Weber. Um die Idee eines Konvents hat es in den vergangenen Tagen ziemlich viel Streit gegeben. Der Deutsche legte schließlich - als Chef der größten Fraktion - sein Veto ein. Er sagt: "Das Signal an die Menschen muss sein: Wir gehen in uns."

Um 10.30 Uhr treffen sich Schulz, Tusk und, als Vertreter der amtierenden EU-Ratspräsidentschaft, der niederländische Premierminister Mark Rutte, bei EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Alle vier sehen ziemlich müde aus. Sie haben wenig geschlafen, wenn überhaupt. Ihre Stimmung ist am Boden, doch nun geht es darum, Haltung zu zeigen. Und die ist erst einmal klar gegen London gerichtet. Die Erklärung Camerons, mit dem Austrittsverfahren nach Artikel 50 zu warten, ruft auch hier Empörung hervor. "Wir haben heute Morgen ganz klar vereinbart: Niemand wird mit Großbritannien verhandeln, solange nicht Artikel 50 aktiviert wird. Ansonsten wird sich das Europäische Parlament querstellen", sagt Schulz später.

Er sitzt nun im neunten Stock des Parlaments und erklärt seine Sicht der Dinge. Schulz hat es satt, dass immer wieder "Brüssel" als Synonym für alles Schlechte in der EU herhalten muss. "Wir müssen endlich mit dem Blame Game zwischen den Mitgliedstaaten und den Institutionen in Brüssel aufhören", verlangt er. Leicht wird das nicht, denn die Bürger - nicht nur jene in Großbritannien - haben von ihren Politikern zu Hause seit Jahrzehnten immer wieder gehört, dass "Brüssel" an allem schuld sei, was in Europa schiefläuft. Schulz dreht den Spieß um: "Aber es war doch nicht die EU, die Deutschland, Frankreich oder Italien geschaffen hat. Die EU ist von den Mitgliedsstaaten gegründet worden - und deshalb ist die Union auch nur so stark, wie die Mitgliedsstaaten sie machen." Auch das wird ziemlich klar an diesem Freitag in Brüssel: Stark ist anders.

Immerhin gibt es an diesem Tag eine Zahl, die Schulz und den anderen Hoffnung macht: 75 Prozent der jungen Briten haben für die EU gestimmt. Es ist das einzige Mal an diesem Freitagmittag, dass Schulz kurz lächelt. "Die jungen Briten wissen vielleicht nicht alles über Brüssel, aber sie haben so etwas wie ein europäisches Gefühl. Und das ist etwas Wunderbares." Weber empfindet das ähnlich. Und auch er sieht nun die Staats- und Regierungschefs in der Pflicht. Sie müssten endlich zur EU stehen, fordert er. Und nicht zu Hause madig machen, was sie in Brüssel beschlossen haben. So schließen sich die Reihen in der EU-Metropole.

Juncker musste viel Kritik einstecken

Mittags betritt Kommissionspräsident Juncker den überfüllten Pressesaal des Berlaymont-Gebäudes. Es sind nicht nur Journalisten im Raum, sondern auch viele Beamte der EU-Kommission. Sie wollen den historischen Moment erleben, aber auch sehen, wie sich ihr oberster Chef gibt. Juncker hat viel Kritik einstecken müssen in letzter Zeit. Wie verkraftet er den Schlag? Packt er den Job noch? Auch darum geht es jetzt. "Meine Damen und Herren und - das gilt für manche unter Ihnen - liebe Freunde", beginnt Juncker. Dann verliest er die Erklärung, auf die er sich mit Tusk, Schulz und Rutte verständigt hat. "In einem freien und demokratischen Prozess hat das britische Volk entschieden, die Europäische Union zu verlassen. Wir bedauern diese Entscheidung, aber respektieren sie", geht es los. "Das ist eine nie da gewesene Situation, aber wir sind vereint in unserer Antwort", liest Juncker weiter. Abwechselnd hält er sich an seinem Pult fest und an seinem Manuskript. "Jede Verzögerung würde die Unsicherheit nur verlängern", referiert Juncker vom Blatt. Es ist die klare Aufforderung an Cameron, am Dienstag mit einem Austrittsersuchen in Brüssel zu erscheinen. Zupackend soll das klingen, entschlossen. Doch der Mann, der da vorliest, wirkt nicht so. Juncker hat einmal an selber Stelle in einer fulminanten Rede den Griechen vor dem Euro-Referendum die Leviten gelesen. Gerade mal ein Jahr ist das her, heute wirkt es wie eine Ewigkeit.

Nur zwei Fragen erlaubt Juncker. Ob das nun der Anfang vom Ende der Europäischen Union sei, will eine Journalistin wissen. "Nein", sagt der Kommissionspräsident. Und geht.

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