Brexit:Diese Fragen muss Berlin zum Brexit beantworten

Die Bundesregierung wirkt überrascht vom EU-Austrittsvotum der Briten. Wichtige Fragen stellen sich für Deutschland: Welche wirtschaftlichen Auswirkungen gibt es? Wird der Brexit innenpolitische Folgen haben?

Analyse von Benedikt Peters, Berlin

Es wirkt so, als sei die Bundesregierung kalt erwischt worden. Als habe in Berlin niemand wirklich damit gerechnet, dass der Brexit kommen könnte. Pläne und Überlegungen für den Fall der Fälle gab es zwar, etwa ein Strategiepapier aus dem Wirtschaftsministerium. Aber eine klare Strategie scheint es noch nicht zu geben. Der Eindruck verflüchtigt sich auch dann nicht, als Bundeskanzlerin Merkel um 12:39 Uhr vor die Hauptstadtpresse tritt.

Sie drückt ihr "großes Bedauern" aus, erinnert an die europäische Friedensidee, die man "nie vergessen dürfe". Und sie warnt davor, "voreilige Schlüsse" zu ziehen. "Mit Ruhe und Besonnenheit" müsse man das Ergebnis nun analysieren. Dazu werde sie am Montag mit EU-Ratspräsident Donald Tusk sowie Frankreichs Präsident François Hollande und Italiens Premier Matteo Renzi beraten. Konkrete inhaltliche Schritte kündigt sie aber nicht an. Dabei liegen viele Fragen bereits auf dem Tisch, in Berlin laufen die Diskussionen an.

Die erste Frage: Wie schnell soll Großbritannien aus der EU austreten?

In dieser Sache deutet sich ein Konflikt zwischen EU-Kommission und Bundesregierung an. Am Vormittag hatte Kommissionschef Jean-Claude Juncker Paris und Berlin aufgefordert, "eindeutig Position zu beziehen." Die "Situation der Unsicherheit" dürfe nicht lange anhalten. Weitere EU-Politiker mahnten rasche Verhandlungen über den britischen Austritt an. Merkels Worte klingen völlig anders. Sie verweist darauf, dass der Austritt eines Mitgliedsstaates klar geregelt sei. Es handle sich um ein "mehrjähriges Verfahren", währenddessen Großbritannien in der EU bleibe. Ähnlich äußert sich auch ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble am Freitagmorgen. Über die vielfach kritisierte Ankündigung des britischen Premiers David Cameron, er werde im Oktober zurücktreten, damit sein Nachfolger dann erst Verhandlungen einleiten könne, verliert Merkel kein Wort.

Die zweite: Könnte in Deutschland etwas Ähnliches passieren?

Der Brexit ist Wasser auf die Mühlen der Nationalisten, Rechtspopulisten und Europaskeptiker, auch in Deutschland. "Die Europäische Union ist als politische Union gescheitert", behauptete sogleich Beatrix von Storch, die Vizechefin der AfD. Partei-Rechtsaußen Björn Höcke forderte prompt eine landesweite Abstimmung über die deutsche EU-Mitgliedschaft. Die Fraktionschefs der großen Parteien wiegelten hingegen ab. Thomas Oppermann (SPD) verwies darauf, dass die Zustimmung zur Europäischen Union in Deutschland deutlich höher sei als in Großbritannien. Volker Kauder (CDU) gab sich ebenfalls überzeugt: "In Deutschland wäre eine solche Entscheidung nicht möglich." Es stimmt, dass die Menschen hierzulande traditionell der EU freundlicher gesinnt sind als in Großbritannien. Allerdings zeigen Umfragen, dass die Europaskepsis in den vergangenen Jahren auch unter den Deutschen steigt.

Die dritte: Wer ist verantwortlich für den Brexit?

Die Schuldfrage beantworten die Hauptstadtpolitiker bisher überwiegend zurückhaltend. Aber es gibt auch Ausnahmen: CDU-Mann Kauder sieht die Verantwortung insbesondere beim britischen Premier. Cameron habe über Jahre "schlecht über Europa geredet", kritisierte er. Zudem habe er seine Partei schon vor Jahren aus der Familie der europäischen konservativen Kräfte geführt. Die Linke sieht die Verantwortung auch bei den "EU-Technokraten und ihrer neoliberalen Austeritätspolitik". Diese habe dafür gesorgt, dass sich Europaskepsis und Nationalismus verbreiten konnten. Wolle man weitere Austritte verhindern, müsse man die Austeritätspolitik abschaffen.

Die vierte: Welche wirtschaftlichen Probleme muss die deutsche Politik nun lösen?

Klar ist, dass der Brexit der Wirtschaft hierzulande schadet. Der Dax ist bereits eingebrochen, Großbritannien ist der drittwichtigste Handelspartner Deutschlands. Mehr als 2500 deutsche Unternehmen haben Niederlassungen in Großbritannien. Sie beschäftigen rund 370 000 Mitarbeiter und damit mehr als ein Prozent aller Berufstätigen. Umgekehrt sind viele britische Unternehmen in Deutschland aktiv. Diese Beziehungen sind durch den Brexit in Gefahr. Viele der betroffenen Firmen werden von der Bundesregierung einfordern, dem Handel schadende Zölle zu verhindern. Merkel versuchte mit ihrer Erklärung, die Wirtschaft zu beruhigen. Man werde "enge und partnerschaftliche" Beziehungen mit London anstreben und bei den Verhandlungen ein "besonderes Augenmerk" auf die Interessen der Wirtschaft legen.

Die fünfte: Droht nun eine schwere Krise der EU?

Europaweit befürchten Politiker, dass der Brexit eine Kettenreaktion auslösen könnte, wenn sich die EU nicht verändert. Als größtes Mitgliedsland ist Deutschland ein zentraler Player bei möglichen Reformen. Merkel äußerte sich dazu vage. Man müsse dafür sorgen, dass die Bürger konkret spüren, wie die EU ihr Leben verbessere. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) schlug am Vormittag ähnliche Töne an. Die EU müsse zeigen, "dass sie in der Lage ist, die Probleme zu lösen, die die Menschen spüren". Er forderte, dass die Mitgliedsstaaten "gemeinsame Antworten auf die Flüchtlingskrise" geben müssten, außerdem müsse bei Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und der gemeinsamen Sicherheitspolitik mehr getan werden. Ungeachtet der Tatsache, dass seine Partei mit CDU und SPD eine Regierung bildet, klang CSU-Chef Horst Seehofer völlig anders. Er forderte ein Ende von "Zentralismus und Gleichmacherei". "Die EU muss jetzt deutliche Signale setzen für eine Reform ihrer Politik", sagt er. Aus Sicht der Linken ist vor allem die "neoliberale Austeritätspolitik" und die Arbeit der "EU-Technokraten" reformbedürftig. "Europa muss sich ändern oder wird zerfallen", sagte Fraktionschefin Sahra Wagenknecht.

Veränderung wollen also alle in Berlin. Die Diskussion über das "Wie" aber hat gerade erst begonnen.

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