Brasilien nach dem WM-Ausscheiden:Der Zorn kehrt zurück

Brasilien nach dem WM-Ausscheiden: Nach dem verlorenen Halbfinalspiel verhaftet die Polizei in der Nacht in Belo Horizonte einen Mann

Nach dem verlorenen Halbfinalspiel verhaftet die Polizei in der Nacht in Belo Horizonte einen Mann

(Foto: AFP)

Teure Stadien, aber marode Krankenhäuser: Vor der WM protestierten viele Brasilianer gegen die Politik der Regierung. Auch mit Gewalt. Dann verdrängte der Fußball die Probleme. Was passiert jetzt, nach der vernichtenden Niederlage gegen Deutschland?

Von Sebastian Gierke und Sebastian Schoepp

Zack, zack, zack, zack, zack, zack, zack. Sieben Tore der deutschen Elf. Sieben Gegentore wie Peitschenhiebe für die brasilianische Fußballseele. Und als es dann vorbei war, als die Heim-WM für die brasilianische Nationalmannschaft quasi beendet war und damit auch für Millionen Menschen, die überall im Land gefiebert, gefeiert und am Ende gelitten hatten, da brach ein Beben im Stadion von Belo Horizonte los. Die Menschen machten ihrer Enttäuschung Luft. Das Pfeifen und Buhen, es war ohrenbetäubend. Der Lärm wurde mächtig, füllte das Stadion, wurde zur vibrierenden negativen Energie. Mit dieser Energie wird das Land zu kämpfen haben.

Kein sportliches Großereignis legte in der öffentlichen Wahrnehmung Brasiliens eine solche Achterbahnkarriere hin wie die Fußball-WM. Vom Ausweis neuer brasilianischer Leistungskraft sank sie in den Wochen vor dem Turnier herab zum Symbol einer fehlgeleiteten Gigantomanie und ausufernder Korruption - um dann wieder aufzusteigen als das, was eine WM so oft ausmacht: als Turnier voller packender Spiele. Über Politik wurde kaum noch geredet.

Das könnte sich ändern, jetzt nachdem die deutsche Nationalmannschaft über ihren brasilianischen Gegner hinweggefegt ist. Dieses Spiel hinterlässt Narben. Die Enttäuschung, die sich im Stadion Bahn brach, die wird das ganze Land erfassen. Der Fußball ist nicht mehr da, als Mittel des Vergessens, des Verdrängens.

Brasilien hat eine schwere Zeit vor sich

Das Land steht vor gewaltigen Problemen, das zeigten die Ausschreitungen vor der WM. Und bereits in der Nacht des Ausscheidens kam es wieder zu Zusammenstößen. In São Paulo wurden Busse in Brand gesetzt, bei Fan-Festen kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei. Brasilien hat eine schwere Zeit vor sich.

Als Präsident Luiz Inácio Lula da Silva 2006 verkündete, er habe die Zusage für Brasilien als Austragungsort ergattert, wurde er als Held gefeiert. Es schien die Krönung einer unerhörten Erfolgsgeschichte zu sein, gekennzeichnet durch Wachstumsraten von um die sechs Prozent, eine klare politische und wirtschaftliche Vormachtstellung in Lateinamerika, eine von Protektionismus gestärkte Industrie, einen wachsenden Mittelstand. Brasilien fand gigantische Mengen Öl vor der Küste und wurde zum Magneten für Arbeitsmigranten aus den Nachbarländern und den europäischen Krisenstaaten Spanien und Portugal. "Brazil takes off", Brasilien hebt ab, titelte der britische Economist im Boomjahr 2009. Noch kurz vor der WM tönte Lulas Nachfolgerin und politische Ziehtochter Dilma Rousseff: "Wir sind ein Siegerland."

Keine Rücksicht auf die Bevölkerung

Breite Bevölkerungsschichten zweifelten zu dieser Zeit allerdings bereits heftig an dieser Version. Kurz vor der WM kam es zu den größten Massenprotesten seit Jahrzehnten. Und hatten die Menschen nicht recht? Das Wachstum beträgt inzwischen nur noch wenig mehr als ein Prozent, dafür ist die Inflation auf sechs Prozent geklettert. Die gigantische Bautätigkeit vor der WM, der Run auf Aufträge, hat die Korruption noch verstärkt. Auf die Natur wurde so wenig Rücksicht genommen wie auf die Bedürfnisse der breiten Bevölkerung.

Kurz vor dem Eröffnungsspiel sammelte Brasilien nur noch schlechte Nachrichten: Gewalt, Proteste, Misswirtschaft - die alten Klischees von Lateinamerika als Hort von Krisen und Katastrophen schienen all jenen recht zu geben, die der Kunde von der Konsolidierung des alten Chaoskontinents ohnehin nie getraut hatten. Dann kam die WM, all das schien vergessen. Jetzt wird es umso schmerzhafter wieder zutagetreten.

Die Fragen, die vor der WM gestellt wurden, sie werden jetzt wieder aktuell. Hat von dem Turnier nicht hauptsächlich die Fifa profitiert? Und ein paar private Unternehmer? Brauchte es wirklich zwölf neue oder renovierte Stadien? Warum wurden für das Spektakel umgerechnet fast drei Milliarden Euro ausgegeben, während neben den Fußballtempeln Krankenhäuser, Kindergärten und Schulen langsam verfallen? Umfragen zeigen, dass der Unmut der Brasilianer über Kostenexplosion und Korruption keineswegs verschwunden ist.

Anti-Rousseff-Sprechchöre

Im Vorfeld hatte Präsidentin Rousseff versucht, eine "systematische Kampagne" der Medien und der politischen Gegner für die schlechte Stimmung verantwortlich zu machen. Doch der Druck auf die Vorsitzende der regierenden Arbeiterpartei steigt. Am 5. Oktober finden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Auf dem Spielfeld wurde der glücklose Stürmer Fred ausgebuht. Doch es hallten aber auch Anti-Rousseff-Sprechchöre durch das Stadion. Ein Stadion, in dem - auch das ein Kritikpunkt an dieser WM - fast ausschließlich ein elitäres, hellhäutiges Publikum saß, Menschen aus der brasilianischen Ober- und Mittelschicht. In den Favelas, dort wo die Armen leben, die Abgehängten, ist der Zorn noch viel größer.

Zwar hat die Arbeiterpartei Rousseffs Erfolge vorzuweisen bei der Bekämpfung der Armut und der sozialen Ungleichheit. Die Präsidentin hat dafür gesorgt, dass von Lula initiierte soziale Hilfsprogramme ausgebaut wurden. Doch das abebbende Wirtschaftswachstum legt viele offene Wunden frei. Bildungssystem, Gesundheitswesen, Infrastruktur, öffentliche Sicherheit: Wichtige Bestandteile des brasilianischen Gemeinwesens liegen danieder.

Die Lage ist allerdings nicht hoffnungslos. Die Geschwindigkeit von Brasiliens wirtschaftlichem Höhenflug ist langsamer geworden, vorbei ist er nicht. Die Proteste, die es seit dem Confed-Cup 2013 gibt, dem Vorbereitungsturnier für die WM, waren im Kern die logische Folge einer positiven Entwicklung. Das mutet nur auf den ersten Blick paradox an. Die Erschütterungen haben nämlich klargemacht, dass eine rasant wachsende Zahl Brasilianer sich nicht mehr mit Spielen abspeisen lässt, wenn es am Brot und anderen elementaren Teilen der Grundversorgung wie Gesundheit und Bildung fehlt. Früher durften in Lateinamerika sogar Diktatoren sicher sein, dass Fußballsiege noch jedes Aufbegehren im Volk besänftigen würden. Doch die Zeiten haben sich geändert. Brasilien hat zwischen der Vergabe des Turniers 2006 und dessen Ausführung 2014 eine rasante gesellschaftliche Entwicklung hingelegt, die alte Gewissheiten hinweggefegt hat.

Angeführt wird die Debatte von einem neuen, noch sehr instabilen Mittelstand. Hochgebildet, weit gereist und international vernetzt, doch mit einem Fuß nach wie vor in der Prekarität. Diese Menschen haben viel zu verlieren, sie wissen, was es heißt, für den minimalen Lebensunterhalt kämpfen zu müssen. Sie wollen keine Revolution, sondern weniger Korruption und mehr Partizipation. Sie wollen nicht mehr nur überleben, sondern gut leben - wozu eine lebenswerte Umgebung gehört. Doch nicht nur der Mittelstand ist zu einem neuen Bewusstsein gelangt. Auch in den Favelas haben sich neue Formen gesellschaftlicher Teilhabe herausgebildet.

Präsidentin Rousseff wirkte wie die gesamte politische Klasse anfangs völlig überfahren von dieser sozialen Bewusstseinswerdung. Dann legte sie ein eilig zusammengeschustertes Reformprogramm gegen Korruption und Misswirtschaft vor, das jedoch von den Vertretern der alten Garden im Parlament abgeschmettert wurde. Die postkolonialen Eliten wollen nichts hinnehmen, was ihre Privilegien ins Wanken bringen könnte. Außerdem hat die konservative Opposition die Gelegenheit erkannt, Schwachpunkte bei der zuvor unschlagbar erscheinenden Rousseff vor der Wahl bloßzulegen. Doch Rousseff ist auch Konkurrenz von links erwachsen, die sie Stimmen kosten wird, vor allem bei den Anhängern der Protestbewegung.

Der schlimmstmögliche Kater

Der größte Gegner für Rousseff wird allerdings die Enttäuschung sein. Die WM endet nicht im fest eingeplanten Glückstaumel, sie endet mit dem schlimmstmöglichen Kater. Doch auch wenn die Niederlage wehtut, es war nur ein Fußballspiel. Brasilien wird deshalb nicht zusammenbrechen. Die Fragen nach der Nachhaltigkeit des Entwicklungsmodells der vergangenen Jahre, nach den Profiteuren und den Verlierern, die könnten jetzt allerdings wieder lauter werden.

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