Die Grünen:Boris Palmer - dieser Mann ist kein Sensibelchen

Boris Palmer Tübingen Grüne

Eckt an: Grünen-Politiker Palmer.

(Foto: dpa)

Der Grünen-Politiker Boris Palmer ist nicht zimperlich bei der Wahl seiner Worte und bringt regelmäßig Parteikollegen gegen sich auf. Über einen, der den Streit liebt.

Von Harald Hordych

Köln. Immer wieder Köln. Die Ereignisse der Silvesternacht schreien geradezu nach emotional geführter Diskussion. Der grüne Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer ist stets bereit, sich auf seiner Facebook-Seite anderen Meinungen zu stellen und auch innerhalb seiner Partei zu polarisieren.

Als er die gewalttätigen Übergriffe auf Frauen thematisierte, ahnte er, was geschehen würde und schrieb einen Appell - als könne man den Menschen ein Medikament gegen einseitiges Denken verordnen: "Wieder gehen zwei Lager aufeinander los, wieder wird die Welt in Bilder eingezwängt, und wieder ist es nicht möglich, nüchtern über die Sache zu reden." Palmer wollte "eine Debatte ohne Vorurteile und Scheuklappen". Was er bekam, waren Kommentare wie diese: "Tragen Sie nun auch noch dazu bei, dass ein brauner Mob durch deutsche Städte lynchend zieht?"

Schärfe in der Auseinandersetzung fürchtet er nicht

Für die SZ plädiert Palmer in einem Essay für einen Streit, der seiner Ansicht nach nach Krieg werden muss.

An dieser Stelle sollte man hinzufügen, dass Palmer, was politischen Streit angeht, nicht das ist, was man gemeinhin ein Sensibelchen nennt. Wie stark und unabdingbar einer seine Meinung vertreten kann, hat er von klein auf im eigenen Elternhaus intensiv erlebt. Sein Vater war der legendäre Kommunalpolitiker Helmut Palmer, der sich in Baden-Württemberg bei 250 Bürgermeisterwahlen als Kandidat aufstellen ließ. Als er vor Gericht einen Polizisten mal mit den Worten "Von welcher Nazi-Muttermilch hosch du gsoffa?" in die Schranken wies, verbrachte er schwer krebskrank, mit 70 Jahren, lieber zwei Monate im Gefängniskrankenhaus als die Strafe für die Beamtenbeleidigung zu bezahlen.

Sich mit großer Überzeugung und Tatkraft für das einzusetzen, was man für die gute Sache hält, keinem Streit aus dem Weg zu gehen, dabei nicht zimperlich in der Wahl seiner Worte sein - das hat auch der Sohn verinnerlicht. Boris Palmer, 43, macht Schärfe in der Auseinandersetzung keine Angst. Und als Politiker, der in seiner eigenen Partei immer wieder durch ungewöhnliche Statements die Parteikolleginnen gegen sich aufbringt, weiß er, wie schnell der gepflegte Meinungsaustausch im wahrsten Sinne des Wortes in einen extremen Schlagabtauschumschlagen kann.

Er vermisst die Wächterfunktion der Presse

Immer häufiger rauft Palmer sich die Haare, "weil sachliche Debatten im Kreuzfeuer verfeindeter und durch kein Argument zu erreichender Lager und Milieus brutal unter die Räder geraten". Für ihn gehen Maß und Mitte verloren, Vernunft und Differenzierung weichen rabiat vorgetragenen Meinungen. Palmer ist alarmiert vom "Absolutheitsanspruch" und von "selbsterteilter Lizenz zur Verdammung anderer Auffassungen".

Er sieht die Hauptursache für diese Entwicklung in den sozialen Netzwerken und der Art der Auseinandersetzung, die dort geführt wird. Er vermisst die Wächterfuntkion, die die Presse früher ausübte. Sie filterte, wählte aus. Für Palmer steht fest: "Radikalisierte Auffassungen und Formulierungen fanden früher kaum den Weg in die Öffentlichkeit". Diese Gatekeeper-Funktion ist nicht mehr zurückzuholen. Palmer weiß das, weil er dazu nur jeden Tag auf seine Facebookseite schauen muss, die 11 000 Menschen regelmäßig ansehen. Dort dominieren die Extreme. Sich mit der Sache oder einer These befassen, das schaffen Palmer zufolge die wenigsten. Stattdessen: vorgefertigte Meinungen oder Hasstiraden.

Und nun? Resignieren, sich zurückziehen, bei etwas, das kaum mehr zurückzuschrauben ist? Für Boris Palmer ist diese Entwicklung für die Demokratie nicht nur ein Fluch, sondern auch ein Segen. Er sieht nicht nur die Gefahren, sondern auch die Chancen. Und zeigt einen eigenen Weg auf.

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