Blutige Demonstrationen in Syrien:"Wir haben keine Angst mehr"

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Seit fast 50 Jahren leben die Syrer unter einem autoritären Regime. Nun regt sich Widerstand: Nach der Verhaftung von Jugendlichen trugen die Stämme ihren Protest auf die Straßen. Das Assad-Regime schlägt mit Gewalt zurück.

Silke Lode, Damaskus

Die Winterstürme waren in diesem Jahr hartnäckig, erst vor wenigen Tagen hat der Frühling in Damaskus Einzug gehalten. Syrische Familien nutzen jeden Flecken Grün für ein Picknick, junge Männer sitzen vor den Häusern und rauchen Wasserpfeife. Die ersten Frühlingstage haben aber noch mehr als warmes Wetter gebracht.

Die Trauerfeier für einen von der syrischen Polizei getöteten Demonstranten in der Stadt Deraa wurde zu einer neuen Demonstration. (Foto: REUTERS)

Am vergangenen Freitag kam es erstmals seit vielen Jahren zu Massenprotesten in dem autoritär regierten Land. Die Stille in Syrien, die auch während der ersten Wochen der arabischen Revolutionen anhielt, ist gebrochen. Und die zerstreuten Dissidenten, die für Freiheit und politische Reformen kämpfen, hoffen, dass endlich ein Winter vorbeigeht, der 48 Jahre gedauert hat.

Seit 1963 in Syrien ein Notstandsgesetz in Kraft gesetzt wurde, das bis heute gilt, haben die Menschen so viel teils blutige Unterdrückung erlebt, dass die Angst vor dem Sicherheitsapparat zu einem ständigen Begleiter geworden ist. Diese beginnt nun zu schwinden. Im ganzen Land kommt es seit Tagen immer wieder zu Protesten, und der Kern des Geschehens ist dort, wo ihn niemand erwartet hat: in Deraa, einer Stadt an Syriens Südgrenze zu Jordanien.

Dort hat nur ein kleiner Tropfen gereicht, um das Fass zum Überlaufen zu bringen: 15 Kinder waren verhaftet worden, weil sie regimekritische Parolen an Wände geschmiert hatten. Als sie nach mehr als einer Woche immer noch nicht freigelassen worden waren, verbündeten sich ihre Familien, die großen Stämmen angehören, und trugen ihre Wut auf die Straße. Das war am Freitag nach dem Mittagsgebet. Am Abend waren mindestens vier Menschen tot. Erschossen von Sicherheitskräften.

Doch die Stämme ließen sich nicht einschüchtern. Gleich am nächsten Tag verwandelte sich das Begräbnis von zwei der Toten in einen Massenprotest, bei dem immer wieder eine Parole skandiert wurde: "Wir haben keine Angst mehr." Die Aktivisten in Damaskus sind von diesem Ereignis elektrisiert. Die Hoffnung hatten sie zwar nie aufgegeben, schon gleich gar nicht, nachdem Tunesier und Ägypter sich ihre Freiheit erkämpft hatten.

Doch über Wochen waren die Facebook-Protestaufrufe ungehört verhallt, offenbar ist das Internet nicht der richtige Weg, um in Syrien die Massen zu mobilisieren. Jetzt zeigt sich, dass die Gruppe der Unzufriedenen weit über die Jugend hinausreicht - und dass traditionelle soziale Strukturen sehr viel Macht haben.

"Es geht darum, die Angst zu überwinden", sagt ein junger Aktivist, der hier Kamal heißen soll. Viele Menschen sind jetzt wie er bereit, offen über aktuelle Ereignisse und politische Forderungen zu sprechen - in Syrien ist das keine Selbstverständlichkeit. Namen zu nennen würde jedoch auch reine Beobachter in Schwierigkeiten bringen, fast täglich verhaften die Sicherheitsdienste dieser Tage selbst stumme Demonstranten.

Kamal hat sich immer wieder an kleinen Protesten in Damaskus beteiligt, einer seiner Bekannten war am Freitag in der Omajjaden-Moschee, wo mehr als hundert Menschen nach dem Gebet "Syrien, Allah, Freiheit" riefen. "Was dort passiert ist, ist ein Skandal", sagt Kamal. "Die Leute waren total friedlich und wurden in der Moschee von Sicherheitskräften geschlagen."

Hunderte Gläubige seien dabeigestanden und hätten nicht eingegriffen. "So etwas wäre in Deraa nie passiert", meint Kamal. Die dortige Stammeskultur ist ihm fremd, früher hätten er und seine Freunde Witze gemacht über die Leute aus den Stammesregionen mit ihrem Familiensinn. Aber Kamal weiß, dass dort eine andere Mentalität vorherrscht als in Damaskus: "Hier wollen die Leute ihre Ruhe, und sie wollen Geschäfte machen. Die Stammesleute sind echte Kämpfer." Deshalb meint er, dass Damaskus eine der letzten Städte sein wird, die sich an einem Aufstand beteiligt. Doch selbst hier sollen am Sonntag erneut 300 Leute protestiert haben.

Es sprechen jedoch auch andere Gründe als die Mentalität der Damaszener dafür, warum es in Syrien bisher keine Revolution wie in Tunesien, Ägypten oder Libyen gegeben hat. Einer dieser Gründe ist Präsident Baschar al-Assad. Seit er vor elf Jahren die Macht von seinem Vater Hafis übernommen hat, hat sich Syrien spürbar verändert.

Vor allem im Wirtschaftsbereich hat Assad Reformen vorangetrieben, und vielen Leuten gefällt, dass der Präsident sich immer wieder volksnah zeigt. Selbst einer der Kritiker räumt ein, dass das Leben ein Paradies sei im Gegensatz zu den Jahrzehnten unter Hafis al-Assad.

Doch auch unter Baschar gilt das Notstandsgesetz weiter, nach wie vor gibt es weder Meinungs- noch Versammlungsfreiheit, Dissidenten werden zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt, und echte politische Reformen stehen aus. Trotzdem haben die Syrer auf keiner der Demonstrationen den Rücktritt Assads gefordert, die Wut richtete sich bislang gegen seinen Cousin Rami Makhlouf, der wegen korrupter Machenschaften verrufen ist.

Mit Blick auf Assad sind hingegen Stimmen zu hören, die den Präsidenten auch in Zukunft einbinden wollen. "Er muss sich klar zu den Zielen Demokratie und politische Reformen bekennen, dann können wir über einen Weg mit ihm reden", meint ein Oppositioneller. Assad hat eines erreicht, was viele Syrer sehr zu schätzen wissen: Stabilität. Sie haben in ihren Nachbarländern, im Irak und im Libanon, gesehen, wohin Konflikte zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen führen können.

Potential für solche Konflikte gibt es allerdings auch in Syrien: Die Staatsspitze um Assad gehört zu den Alawiten, die nur eine Minderheit der Bevölkerung ausmachen. Während sich die Christen relativ gut damit arrangiert haben, ist vor allem die sunnitische Mehrheit an der Macht unterrepräsentiert, und die kurdische Bevölkerung wird massiv diskriminiert. Zwar ist das syrische Nationalgefühl in allen Gruppen sehr stark, doch die Angst ist groß, dass die unterdrückten Konflikte zu einem Bürgerkrieg führen könnten.

Im Umgang mit den Protesten hat sich die Regierung offenbar noch nicht auf eine Strategie festgelegt. Offenkundig ist, dass größere Demonstrationen bislang sofort aufgelöst wurden, in Deraa setzten Sicherheitskräfte dabei scharfe Munition und Tränengas ein. Am Sonntag wurde mindestens ein weiterer Demonstrant erschossen, die Stadt wurde abgeriegelt, es gab zeitweise weder Telefon- noch Internetverbindungen nach außen.

Andererseits versprach die Regierung, sofort eine Untersuchungskommission zu den Todesfällen einzurichten und sagte zu, die verhafteten Kinder freizulassen. Assad schickte auch Regierungsvertreter nach Deraa, die "den Familien der Märtyer kondolieren" sollten. Doch die erbosten Stammesführer forderten den Rücktritt der Verantwortlichen, das Ende des Notstandsgesetzes und den Abzug des Geheimdienstes.

Der Weg zu einem Ende des langen Winters ist völlig offen.

© SZ vom 22.03.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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