"Bitte kein Mitleid":Das Wunder von Chapecoense

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Der brasilianische Fußballer Alan Ruschel überlebt den Flugzeugabsturz seines Vereins im November 2016. 252 Tage später spielt er wieder - gegen den FC Barcelona und Lionel Messi.

Von Boris Herrmann

Wenn von großen Comebacks die Rede ist, dann denkt der Boxsportfreund an Muhammad Ali, der Musikkenner, je nach Neigung, an Take That oder Guns N' Roses und so mancher Christ vermutlich an Jesus Christus. Ab sofort darf man auch an den brasilianischen Fußballer Alan Ruschel, 27, denken.

Am 29. November 2016 sitzt Ruschel im Flugzeug, das beim Anflug auf die kolumbianische Stadt Medellín mit 230 Stundenkilometern gegen einen Berg prallt. Es bricht in der Mitte entzwei, rutscht den Hang hinab und fräst eine Schneise, so breit wie eine Skipiste, in den Wald. 71 Menschen sterben. An Bord ist der gesamte Profikader des brasilianischen Erstligisten Chapecoense, dazu der Trainerstab, die wichtigsten Funktionäre und Sponsoren sowie viele mitgereiste Berichterstatter. Ein Fußballverein ist nahezu ausgelöscht. Nur drei Spieler überleben, darunter der Verteidiger Ruschel.

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Die unfassbare Absturzursache erklärt zugleich das Wunder seiner Rettung. Das Flugzeug ist beim Aufschlag nicht explodiert, weil kein Tropfen Treibstoff mehr im Tank war. Ruschel wird aus seinem Sitz geschleudert, von Bäumen abgebremst, dann liegt er stundenlang zwischen Trümmern und Leichen in der kalten Nacht, bevor er gefunden wird. Es ist nicht zu dick aufgetragen, wenn er sich jetzt auf "ein historisches Spiel" freut.

Am Montagabend tritt das neu formierte Team von Chapecoense beim traditionellen "Trofeo Joan Gamper" im Camp Nou an, gegen den FC Barcelona. Ruschel wird dabei erstmals wieder auflaufen. 252 Tage nach dem Absturz. Als er im Dezember auf einer Intensivstation wieder zu sich kommt, wollen ihm die Ärzte keine Hoffnung auf solch eine Rückkehr machen. Das Becken, das Schienbein und der zehnte Brustwirbel sind gebrochen. Von den seelischen Wunden gar nicht zu reden. Seine Verlobte Marina Storchi erzählt, er habe im Krankenhaus einen ganzen Tag lang die Decke angestarrt und dann gefragt: "Haben wir wenigstens gewonnen?"

Alan Ruschel muss zunächst einmal begreifen, dass fast alle seine Mitspieler tot sind. Dann lernt er wieder sitzen, stehen und gehen. Im Februar quält er sich bereits im Kraftraum, im Mai steigt er ins Mannschafttraining ein. Seine fast schon gespenstische Heilung verläuft parallel zur Wiedergeburt seines Vereins.

Bei Chapecoense wollen sie so schnell wie möglich wieder als Fußballteam wahrgenommen werden und nicht als Trauergemeinde. Sie haben gemäß den "üblichen Branchengesetzen" nach fünf sieglosen Ligaspielen auch schon ihren Trainer gefeuert, der im Dezember für seinen verstorbenen Vorgänger eingesprungen war. Auch Ruschel möchte nicht wie ein Überlebender behandelt werden, sondern wie ein normaler Profi. "Bitte kein Mitleid", betonte er vor dem Einsatz in Barcelona.

Dass dieses Spiel zustande kommt, hängt auch mit dem teuersten Brasilianer, Neymar, zusammen, der in der weltweiten Solidaritätswelle mit dem Absturzklub eine maßgebliche Rolle spielt. Neymar ist nicht mehr da, wenn Chape nun ins Camp Nou kommt. Es ist aber gut möglich, dass Linksverteidiger Ruschel den Flügelstürmer Lionel Messi decken muss. Man kann ein neues Leben mit leichteren Aufgaben beginnen.

© SZ vom 07.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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