Bismarck-Biografie:Der Reichskanzler als Hebamme

Otto von Bismarck als Jäger

Weder Monster noch Übermensch: Otto von Bismarck.

(Foto: sz-photo/Scherl)
  • Otto von Bismarck war von von 1871 bis 1890 erster Reichskanzler des Deutschen Reiches.
  • Der Historiker Christoph Nonn sieht in Bismarck kein politisches Genie, sondern lediglich einen begabten Diplomaten.
  • Er sieht Bismarck als Geburtshelfer historischer Ereignisse, ohne den die deutsche Geschichte jedoch ähnlich verlaufen wäre.

Von Stephan Speicher

War Bismarck ein Genie der Politik? Für Jonathan Steinberg, dem wir die bislang letzte der voluminösen Biografien des Mannes verdanken, war er das, ein "souveränes Selbst", wenn auch nicht zum Vorteil seines Landes. Das sieht Christoph Nonn anders.

Er, Professor für neueste Geschichte in Düsseldorf, stellt sich die Frage nach der Genialität auch, zitiert Hans-Ulrich Wehler, der, obgleich er nicht an das "Männer machen Geschichte" glaubte, in Bismarck eine "politische Potenz sui generis" erkannte, und kommt zuletzt doch zu dem Schluss: "Bismarck war kein Genie. Er war ein begabter Diplomat und als Innenpolitiker leidlich erfolgreich."

Dass ohne ihn die deutsche Geschichte anders verlaufen wäre, müsse "außerordentlich fragwürdig erscheinen". Aber ein "Monster" in ihm zu sehen, lehnt er gleichfalls ab.

Der Landadlige Bismarck blieb dem Land verhaftet

Damit ist schon angedeutet, was sein Bismarck-Buch, mit 400 Seiten von mittlerer Ausgiebigkeit, charakterisiert. Er will seinen Gegenstand als einen bedingten beschreiben, ihn europäisieren und aus seiner Herkunft erklären.

Bismarck wurde 1815 geboren, der Vater, ein gutmütiger, aber schwacher Mann, gehörte zum Landadel, die Mutter, kühl und dominant - ihr Sohn liebte sie nicht - entstammte dem bürgerlich-gelehrten Milieu. Bismarck blieb sein ganzes Leben dem Land verhaftet. Auch als Kanzler verbrachte er große Teile des Jahres, oft die Hälfte und mehr, auf seinen Gütern Varzin und Friedrichsruh.

Eigennutz und Überzeugung

Die Stadt blieb ihm fremd. Industrie, Technik, Wissenschaft, das betraf ihn nicht, das gab nach seinem Urteil dem Leben, dem des einzelnen und dem der Gesellschaft, zu wenig Halt. Und so hat er ganz selbstverständlich die Interessen des flachen Landes und das heißt: der Landwirtschaft nach vorn gestellt.

Eigennutz war gewiss dabei, aber auch Überzeugung. Als die Weltmarktpreise für Agrarprodukte fielen, trat er für hohe Zölle ein. Der Reichstag stimmte zu und die Abgeordneten hatten Gründe: Bis in die 1890er Jahre lebte die Mehrzahl der Deutschen auf dem Land. Auskömmliche Agrarpreise waren für sie und nicht nur den Großgrundbesitz von höchster Bedeutung.

Auch außenpolitisch dachte Bismarck konservativ

Bismarck schrieb der Landbevölkerung eine konservative Grundhaltung zu, das ließ ihn 1866 zum allgemeinen Wahlrecht greifen: der elementare Konservatismus der ärmeren Leute sollte die liberalen Neigungen der wohlhabenderen Städter balancieren.

Doch Bismarck dachte auch außenpolitisch konservativ. Die Donaumonarchie und Russland waren seine bevorzugten Partner. Großbritannien mit seinem parlamentarischen System und eingewurzelten Liberalismus blieb ihm fremd, das republikanische Frankreich seit 1871 ohnehin. So, glaubte er, müsse auch Russland denken.

Und zu diesem althergebrachten Denken gehört für Nonn, dass Bismarck die innenpolitischen Voraussetzungen der Außenpolitik zu gering veranschlagte. Seine Zollpolitik zum Schutz der heimischen Landwirtschaft musste Russland als Getreideexporteur schwer treffen, das hatte er nicht im Blick.

Kein deutscher Sonderweg

Kein Genie, insofern im Hergebrachten verharrend, so muss man Nonn wohl verstehen. Und weiter: Kein Genie, insofern den europäischen Standard exekutierend. Das ist der interessanteste Gesichtspunkt des neuen Buches.

Nonn wendet sich gegen die (auch nicht mehr taufrische) These vom deutschen Sonderweg. Die Reichseinigung 1871 war nichts Besonderes, stieß bei den Nachbarn auf wenig Erstaunen. Bei weitem nicht alle Europäer lebten in einem Nationalstaat, aber viele ersehnten es sich.

Die Rolle der liberalen Parteien

Besonders interessant: Ist der Niedergang der liberalen Parteien seit Ende der 1870er Jahre ein Stück des deutschen Sonderwegs? Nonn weist darauf hin, dass in Großbritannien nach dem Reform Act von 1867 nur 40 Prozent der Männer - einkommensabhängig - das aktive Wahlrecht besaßen. Das privilegierte die liberale Partei. Ähnlich sah es in Italien aus.

Gewiss richtig der Hinweis auf die konfessionelle Spaltung Deutschlands, die die Liberalen der beiden Konfessionen gegeneinander in Stellung brachte. Bedenkenswert auch, dass die Wirtschaftskrise der späten 1870er Jahre die bis dahin bestimmenden Kräfte in Misskredit brachte. Das waren in Deutschland die Liberalen, in Frankreich und Italien die Konservativen. Insofern beobachten wir Rückschlagseffekte, nicht unbedingt tief verwurzelte Überzeugungen.

Bismarck als Person bleibt blass

Der Blick über die Grenzen ist der größte Gewinn, den Nonns Leser haben. Dem Untertitel "Ein Preuße und sein Jahrhundert" wird der Autor weniger gerecht. Zum einen muss man sich fragen, ob Bismarck bis zuletzt Preuße blieb oder nicht doch allmählich die Perspektive des Reiches einnahm. Vor allem aber wird "sein Jahrhundert" nicht so recht ausgeleuchtet.

Doch auch die Person mit ihren großen, den kleinlichen und den unheimlichen Zügen, der sich Jonathan Steinberg so hingebungsvoll gewidmet hat, bleibt blass. Was die Macht mit den Mächtigen anstellt (Bismarck selbst hatte da wenig Illusionen), das beschäftigt Nonn weniger.

Dabei ist es sehr wohl eine Frage, ob die im europäischen Vergleich einzigartig dominante Rolle, die Bismarck spielte, die Deutschen politisch verdorben hat. Schon Leo von Caprivi, der Nachfolger im Reichskanzleramt, machte sich darüber Gedanken.

Staatsstreichgedanken und Antisemitismus

Es scheint, als sei dem Biografen sein Sprechen vom europäischen Normalfall selbst irgendwann unheimlich geworden. Und so dreht er zuletzt mächtig auf: Er akzentuiert stark, wohl überstark die Staatsstreichgedanken Bismarcks und dessen Idee, das Parlament auszuschalten.

Einen solch absolutistischen Staat gab es nur noch in Russland, und so kommt Nonn auf die zaristische Autokratie und die antisemitischen Pogrome. Von dort geht es zu Bismarcks Antisemitismus, hässlich, aber die zeitübliche Schäbigkeit wohl nicht groß übersteigend.

Doch Nonn sieht die entscheidende Hemmung des Bismarckschen Antisemitismus in der Notwendigkeit, mit Kräften wie Zentrum und Nationalliberalen im Reichstag zusammenzuarbeiten, Gegnern des Antisemitismus. Hätten sich nicht mit dem von Bismarck erwogenen Ende des Parlamentarismus auch die Hemmungen des Antisemitismus erschöpft? Wäre nicht, von Bismarck verantwortet, in Deutschland die Bahn für Pogrome frei geworden? So kommt der Autor zuletzt doch in die düstersten Urteile, allerdings auf höchst spekulativem Weg.

Bismarck als Hebamme

Bismarck, so Nonn, war kein Genie, "stets eine Hebamme historischer Ereignisse, nicht ihr Schöpfer". Aber ist die Hebammenkunst nicht in der Politik das Größte - alles, was darüber hinausgreift, schon Weltinbrandsetzung? Kritische Geschichtsschreibung solle ermöglichen, "für Gegenwart und Zukunft zu lernen".

Aber was kann das heißen? Die Bismarcksche Zollpolitik mit der augenblicklichen "nationalegoistischen Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik" zusammenzuschalten, den arabischen Frühling mit dem Kaiserreich (Bedeutung des Agrarsektors plus mangelnde Liberalisierung), das ist hart am Kannegießern. Nonn möchte nüchtern sein, aber auch auf Sensationen nicht verzichten, das gibt eine heikle Mischung.

Christoph Nonn: Bismarck. Ein Preuße und sein Jahrhundert. Verlag C.H. Beck, München 2015. 400 Seiten, 24,95 Euro.

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