Besuch bei der Polizistenwitwe Sigrun Schmid:"Mein Mann hatte keine zweite Chance"

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Norbert Schmid war 1971 das erste Mordopfer der RAF - warum sich seine Frau nun auch in der Debatte um die Freilassung von Terroristen allein fühlt.

Holger Gertz

An der S-Bahn-Station in Hamburg-Poppenbüttel sitzt ein Bettler und spielt auf einem Akkordeon, es klingt schaurig und schief. Quietschend hält eine S-Bahn, spuckt Menschen aus, die Menschen verteilen sich, laufen über den Wentzelplatz, ein paar verschwinden im Einkaufszentrum Alstertal, manche hasten die Straße Heegbarg hoch, Richtung Saseler Damm. Einige tragen Handschuhe. Es ist ein Tag im Vorfrühling, aber es fühlt sich an wie Herbst.

Rote Armee Fraktion
:Die Opfer, die Täter, der Terror

Im Zuge der Studentenunruhen radikalisierten sich einige Linke zur Terrorgruppe. 1970 wurde die RAF gegründet - und mordete viele Jahre lang. Ein Überblick in Bildern.

Man könnte an diesem Tag und an diesem Platz einen Dokumentarfilm über die bleierne Zeit drehen, in der eine Handvoll Terroristen das Land in Angst versetzte, und man könnte alles dafür gebrauchen, was diese Szenerie an Stimmung hergibt. Das Windheulen, das Akkordeonwimmern, die grauen Häuser und die grauen Menschen. Eine Kälte, die man greifen kann. Jede Straße erzählt ihren Teil der Geschichte.

Am Wentzelplatz war das Polizeirevier, in dem der Beamte Norbert Schmid Dienst tat, er hatte Nachtschicht am 22.Oktober 1971, in einem zivilen Ford saß er mit einem Kollegen, die S-Bahn-Station in Sichtweite. Gegen halb zwei Uhr nachts sahen sie eine Frau am S-Bahnhof, an diesem Bahnhof, schwarzer Mantel, Hornbrille, fahrig wirkend.

Es war die zur Fahndung ausgeschriebene Margrit Schiller, aber das wussten die Polizisten nicht. Sie folgten der Frau, sahen sie aus der Tiefgarage des Einkaufszentrums Alstertal kommen, sahen, wie sie in einem Garten verschwand, folgten ihr.

Die Nacht, die alles ändert

Die Beamten waren angehalten, besonders aufmerksam zu sein, es hatte Vorfälle gegeben, Hamburg schien sich zum Zentrum eines Phänomens zu entwickeln, das in den Zeitungen auf einen Begriff gebracht wurde: Terrorismus. Schmid rief in Richtung der Frau: ,,Halt, Polizei. Bleiben Sie stehen!'' Inzwischen war auch ein Paar aufgetaucht, das sich näherte.

Die Frau blieb nicht stehen, lief davon, Schmid hinterher, auch das Paar begann jetzt zu rennen. Schmid erreichte endlich die flüchtende Frau, wollte sie greifen, da war auch das Paar ganz nah. Der Moment, in dem alle Linien ineinanderliefen. Schüsse fielen. Norbert Schmid wurde von drei Kugeln getroffen, sein Kollege am Fuß verwundet, das Paar und die Frau konnten fliehen.

Der 22. Oktober 1971 war ein Freitag, und es war der Tag, von dem an man die RAF nicht länger Baader-Meinhof-Bande nannte. Weil von diesem Tag an das Wort Bande sich zu sehr nach Schülerstreich anhörte. Banken ausrauben, Kaufhäuser anzünden, Faxen machen vor Gericht - das hatte die Gesellschaft, in lockerer Stimmung nach den muffigen Nachkriegsjahren, fast sympathisch gefunden.

Im Frühjahr 1971 noch hatte bei einer Umfrage jeder Siebte gesagt, er könne sich vorstellen, seine Luftmatratze für eine Nacht den Revoluzzern zur Verfügung zu stellen. Jetzt lag ein toter Polizist auf der Straße. Der Tod verändert alles. Am nächsten Tag sagte Hamburgs Bürgermeister Peter Schulz: ,,Dieses ist eine rein kriminelle Gruppe im wahrsten Sinne des Wortes.''

"Er ist in der Gerichtsmedizin"

Der Name Norbert Schmid steht an erster Stelle jener Liste, die die Todesopfer der Mördergruppe RAF aufzählt, die Liste reicht von den Siebzigern bis in die Neunziger. Sie umfasst 34 Namen: Von Norbert Schmid, Polizeibeamter, bis Michael Newrzella, GSG-9-Mann. Polizisten, Sicherheitsleute, Fahrer waren nicht die mächtigen Vertreter des Schweinesystems, die die Terroristen töten oder entführen wollten. Sie waren Hindernisse, die es aus dem Weg zu räumen galt.

Der Mensch Norbert Schmid, verheiratet, Vater von zwei kleinen Mädchen, war 32, als er starb.

Sigrun Schmid wohnt in einem kleinen Ort nördlich von Hamburg, im Verborgenen und zugleich mitten im Grünen. Wenn sie aus dem Wohnzimmerfenster schaut, sieht sie Garten und Teich. Auf dem Wohnzimmertisch Kaffee und Süßigkeiten.

In der Nacht damals ist ein Beamter von der Polizeidirektion zu ihr gekommen, die Schmids lebten im Stadtteil Hoisbüttel. Der Beamte sprach von den Gefahren des Polizistenlebens, dem Berufsrisiko. ,,Ist gut, ich komme mit ins Krankenhaus'', hat Sigrun Schmid gerufen, nach ihrem Mantel greifend.

Der Beamte antwortete: ,,Er ist in der Gerichtsmedizin.''

Sigrun Schmid, dunkles, lockiges Haar, 60 Jahre alt, strafft ihren Körper, bevor sie zu erzählen beginnt. Sie hat lange öffentlich nichts gesagt; eine stille Frau, geboren in der heilen Welt des Schwarzwalds. Als sie mit ihrem Mann nach Hamburg ging, ließ sie die Eltern daheim unruhig zurück. Sie solle bloß immer gut auf sich aufpassen in der großen Stadt, sie solle auf ihren Schutz bedacht sein.

Beim Staatsbegräbnis für ihren Mann trug sie einen Schleier über dem Gesicht. Du musst zum Schutz einen Schleier tragen, hatten ihr Bekannte empfohlen: Die Fernsehkameras werden dein Gesicht sehen wollen. Sigrun Schmid hat gelernt, dass ein Opfer beides ertragen muss, den Schmerz und die Öffentlichkeit. ,,Da sind ganz normale Bürger, durch so eine Katastrophe werden sie an die Öffentlichkeit gezerrt. Der Täter ist ein anderer Typ, der will ja an die Öffentlichkeit.''

Sie hat Angst, "die Mohnhaupt" in einer Talkshow zu sehen

Wenn sie jetzt spricht, liegt das auch daran, dass unter der Oberfläche ihres Alltags ein Countdown leise tickend abläuft. Brigitte Mohnhaupt wird vorzeitig aus der Haft entlassen, nur noch ein paar Tage, dann wird sie draußen sein. Brigitte Mohnhaupt, Anführerin der zweiten RAF-Generation, die aber auch schon zur Baader-Meinhof-Zeit dabei war. Seit 1971 kümmerte sie sich um Logistisches.

Das Thema RAF steht wieder im Raum, und Sigrun Schmid will bereichernder Teil der Debatte sein, nicht stiller Zuhörer. Sie hat Angst, ,,die Mohnhaupt'' in einer Talkshow zu sehen. Sie nennt sie immer die Mohnhaupt. Sie hat erlebt, wie geschickt die RAFler ihre Symbole und Traktate platziert haben, wie sprachgewaltig sie sein können, wie die Opfer vor diesem Hintergrund verblassen, und besonders die Hinterbliebenen von Fahrern und Polizisten.

,,Es ist für mich unerträglich, mir vorzustellen, dass die Mohnhaupt ihren großen Auftritt haben wird. Sie bekommt ein Forum, um sich zu erläutern, und das Opfer bleibt am Rande stehen.''

Das ist das Spannungsfeld, in dem Sigrun Schmid lebt: nicht in den Mittelpunkt wollen, aber es irgendwie doch müssen. Um nicht denen das Wort zu überlassen, die den Schmerz verursacht haben, den Tätern. Oder den Politikern und Juristen und Journalisten und Boulevardreportern, die den Schmerz nur aus zweiter Hand kennen. Aber Schmerz aus zweiter Hand, sagt Sigrun Schmid, kann man nicht fühlen.

"Mein Mann war nicht alt. Er geht zum Dienst. Und dann habe ich ihn nicht mehr"

Michael Buback, der Sohn des von der RAF ermordeten Generalbundesanwalts Siegfried Buback, hat vor kurzem geschrieben: ,,Der Umstand, dass mein Vater nicht als Privatperson getötet wurde - die er für uns ausschließlich war -, sondern als Repräsentant der Justiz in der Bundesrepublik, hat uns geholfen, die schlimmen Ereignisse zu verarbeiten.''

Buback ist Professor für Makromolekulare Chemie, er hat gelernt, die Dinge differenziert zu sehen, es ist sein Weg, mit dem Verlust umzugehen. Es ist nicht der von Sigrun Schmid. Sie sah ihren Mann als Privatperson, sie sieht ihn so noch immer. Da ist nichts Sinnhaftes in seinem Tod. ,,Mein Mann war nicht alt. Mein Mann war nicht krank. Er geht zum Dienst. Und dann habe ich ihn nicht mehr.''

An der Wand hängt sein Porträt, sie hat es von einem Foto abmalen lassen.

Sigrun Schmid lernte, vier Jahre nach dem Tod ihres Mannes, einen anderen Mann kennen, Klaus Lohmann, Polizist in Hamburg, befasst mit dem Aufspüren von Terroristen. Später sattelte er um und wurde Journalist, im NDR gibt er dem Publikum Ratschläge, als Sicherheitsexperte. Wie man Einbrecher abschreckt und Betrügern nicht aufsitzt. Wie man kein Opfer wird. Sigrun Schmids Lebensthemen sind auch die von Klaus Lohmann. Er kannte Norbert Schmid nicht persönlich, aber natürlich kannte er dessen Geschichte.

Klaus Lohmann kommt in Echt so beruhigend rüber wie im Fernsehen. Bärenstimme mit stark hamburgischem Einschlag, Schnauzbart, Jeans, blaues Hemd. Er hört ihr zu, manchmal lockert er das Gespräch auf, mit kleinen Geschichten. Wo sie still ist, ist er vergnügt. Er erzählt, wie sie alles zusammengeschmissen haben damals, um das Häuschen zu kaufen, wie sie dann erfuhren, wer sich noch dafür interessiert hat.

,,Kevin Keegan, kennen Sie bestimmt: Der Fußballer vom HSV.'' Geheiratet haben sie nicht. Sie sagt: ,,Ich könnte erst wieder heiraten, wenn ich über den Verlust hinweg bin.'' Er sagt, das schmerze ihn nicht. Er schluckt nicht mal dabei. ,,Man kann einem Menschen nicht vorschreiben, wann seine Trauerzeit vorbei ist.''

Aber so oft sie von sich erzählen, so oft erzählen sie von Norbert Schmid und von seinen Mördern. Alles hat seinen Platz in dieser Beziehung.

,,Durchs Leben gebissen''

Wenn man verarbeitet, oder wenn einem jemand therapeutisch beim Verarbeiten hilft, vielleicht lernt man dann, verletzt zwar und deformiert, mit dem Verlust zu leben. Oder, wenn das Gefühl für den verlorenen Menschen schon zu Lebzeiten kalt geworden war, dann kann man wohl loslassen. Aber bei Sigrun Schmid war das alles nicht so. Sie hat ihren Mann geliebt, die Terroristen haben ihn aus ihrem Leben rausgeschossen. Und, was Therapien angeht: Es war, früh in den Siebzigern, nicht selbstverständlich wie heute, sich Hilfe zu holen.

Sigrun Schmid sagt, sie habe sich durchs Leben gebissen mit ihren Kindern, sie sagt es wirklich so, ,,wir haben uns durchs Leben gebissen, mehr schlecht als recht''. Und dann fächert sie ein Leben auf, in dem Hilfe von selbst selten gekommen ist. Heinz Ruhnau, der Innensenator, stützte sie bei der Beerdigung, ,,das macht sich ja gut bei den Wählern'', aber dann habe sich kein offizieller Mensch mehr bei ihnen gemeldet und gefragt: ,,Wie leben Sie, Frau Schmid. Wie leben Sie ohne ihren Mann?''

Sie hat das Grab geschmückt, über und über mit Blumen, und dann kamen welche und flüsterten: ,,Na, die scheint ja keinen Garten zu haben. Das ist ja direkt ein Gartenersatz hier.'' Das musste sie ertragen, und das, was berichtet, gesagt wurde über die Terroristen und von den Terroristen, und alles ging ihr bis ganz an die Haut.

Die Geschichte der RAF hing immer mit Norbert Schmid zusammen, und damit mit Sigrun Schmid. Jede TV-Reportage, jeder Zeitungsartikel ein Druckpunkt, dessen Berührung Schmerz wachruft.

Wie cool war Baader? Die Frage klingt wie Hohn, für Sigrun Schmid

Gerhard Müller, damals der männliche Teil jenes Paares, das in Poppenbüttel ihren Mann ermordet hatte, kam nach drei Jahren frei, bekam eine neue Identität. Er hatte über andere RAFler ausgesagt, war Kronzeuge geworden, lange bevor es die Kronzeugenregelung gab. Es war ein undurchsichtiges Verfahren, an dessen Ende Sigrun Schmid das Gefühl hatte: ,,Der Staat, der von meinem Mann geschützt wurde, hat meinen Mann verraten.'' Die Zeitungen schrieben, Müller sei der Bewacher von Ulrike Meinhof gewesen, für sie war er der Mörder ihres Mannes.

Die Zeitungen schmückten Müller aus, zum Liebhaber von Ulrike Meinhof, das Thema wechselte vom Politik- in den Boulevardteil, wo das Leichte steht. Müller wurde konsumierbar für die Masse, aber nicht für Sigrun Schmid. Für sie blieb er der Mörder ihres Mannes. Sie hat erlebt, dass eine Hinterbliebene vieles anders sieht als die Masse, und das heißt: Sie steht allein.

Es gab eine Zeit, ein paar Jahre her, jedenfalls vor dem 11. September 2001, da war auf einmal auch der Terrorismus Pop. Prada-Meinhof stand auf T-Shirts, die Medien rührten alles zu einem für die Spaßgesellschaft genießbaren Brei zusammen, zu Unterhaltungsstoff, Spielmaterial. Wie cool war Baader? Die Frage klingt wie Hohn, für Sigrun Schmid.

"Mein Mann hatte keine zweite Chance - mein Mann ist für immer tot"

Heute steht eine andere Frage im Raum: Freiheit für Mohnhaupt, Gnade für Christian Klar? Sigrun Schmids Antwort ist Nein. Sie formuliert sie nicht, sie schaut einen an mit einem Blick, der keinen Raum lässt für Interpretationen. Vielleicht kann der Staat vergeben, vielleicht führt er auf diese Weise erst recht die RAF ad absurdum, die ja diesen Staat als Schweinesystem bekämpft hat.

Aber war der Staat Opfer, atmendes, lebendiges Opfer wie sie? Sie sagt: ,,Es darf keine Gnade für die Gnadenlosen geben.'' Sie sagt: ,,Mein Mann hatte keine zweite Chance.'' Sie sagt: ,,Mein Mann ist für immer tot.''

Vielleicht, wenn da so etwas wie Reue wäre, vielleicht wäre Reue der Punkt, von dem an auch die Opfer neu denken könnten. Aber gibt es Reue, bei Mohnhaupt, bei Klar, wenigstens bei Margrit Schiller, der Frau im schwarzen Mantel, damals in Poppenbüttel? Noch in der Nacht war sie festgenommen worden, saß insgesamt sechs Jahre in Haft, zog später nach Kuba und gab im Jahr 2000 ein Interview.

Es ist das Gespräch mit einer, die in ihrer Rolle gefangen ist, nach wie vor. ,,Gewalt wird bis heute in einem ganz entsetzlichen Maße angewendet von denen, die Macht haben'', sagt Margrit Schiller. Sie sagt nicht, welche Macht Norbert Schmid hatte. ,,Ich habe viele Tote erlebt in meiner Geschichte und rechne sie nicht gegeneinander auf'', sagt Margrit Schiller und erwähnt nicht Norbert Schmid, den sie sterben sah.

Schließlich spricht Margrit Schiller von ihren Kindern. Die Tochter trägt den Zweitnamen Ulrike, nach Ulrike Meinhof, der Sohn sollte eigentlich Andreas heißen, wie Andreas Baader. Aber weil Andreas in Kuba ein Mädchenname ist, hat sie ihn Holger genannt, nach Holger Meins. ,,Mit diesen Namen wollte ich meinen Kindern ein Stück von meiner Geschichte mitgeben und besonders die Erinnerung an die, die in diesem Kampf getötet wurden.''

Klaus Lohmann sagt: ,,Wir lesen nicht alles, was über das Thema geschrieben wird, wir sehen uns nicht alles an. Man muss sich manches nicht antun.''

Vor ein paar Wochen hat Sigrun Schmid einen Brief an den Bundespräsidenten geschrieben. Die Nachricht von der vorzeitigen Freilassung Brigitte Mohnhaupts, die Debatte um die vorzeitige Freilassung von Christian Klar haben sie handeln lassen. Sie bittet Horst Köhler, Klar nicht zu begnadigen.

Sie schreibt: ,,Wir weinen heute nicht minder um unseren Mann und Vater.'' Sie schreibt, dass ,,das Opfer den Tod - ewige Dunkelheit! - und die Hinterbliebenen ein Lebenslänglich erleiden'' müssen. Sie unterschreibt: ,,Sigrun Schmid, Polizistenwitwe.''

Ein eigenes Meer

Es ist ein Brief voll Wut und Bitterkeit, der trotzdem nicht nach Rache schreit, sondern nach Erklärungen. Und irgendwie nach Trost. Und er ist eine Reaktion auf die Aussagen von Politikern, die von ihr, der Hinterbliebenen, als abstrakt empfunden werden, oder als ungerecht. Antje Vollmer, ehemalige Vizepräsidentin des Bundestags, hat sich dafür ausgesprochen, alle noch inhaftierten ehemaligen RAF-Terroristen zu begnadigen.

,,Ich fände es richtig, wenn diese ganze Zeit mit einem politischen Schlusswort des Bundespräsidenten beendet würde.'' Das klingt zu einfach für Sigrun Schmid, oder es trifft nicht die Ebene, auf der sie empfindet. Weil so ein Schlusswort in ihr nichts beenden würde.

Klaus Lohmann holt einen Brief, die Antwort aus dem Bundespräsidialamt. ,,Ich darf Ihnen versichern, dass dem Bundespräsidenten das Leid und die Schmerzen, die Sie wie alle Angehörigen der Opfer durch die Verbrechen der RAF erfahren haben und die Sie gegenwärtig durch die äußerst intensive Diskussion in der Öffentlichkeit einmal mehr durchleben müssen, sehr bewusst sind.'' Gezeichnet von einem Herrn Haller, Staatssekretär. Sigrun Schmidt hätte die Geste zu schätzen gewusst, wenn der Bundespräsident persönlich geantwortet hätte.

Der Stadt Hamburg war der tote Polizist eine Geste wert, ein kleiner schmutziger Platz ist nach ihm benannt. Ein Seniorenheim gibt es da, einen Aldi. Unter dem Straßennamen steht eine Erklärung: ,,Norbert Schmid, Polizeibeamter, im Dienst erschossen.'' Einmal, sagt Sigrun Schmid, hat eine Klassenkameradin ihrer Tochter erzählt, sie wohne da, am Norbert-Schmid-Platz. Mit ihren Freundinnen verabrede sie sich bei Norbert.

So nannten sie das: sich bei Norbert treffen. Da hat die Tochter gefragt: Weißt du, warum der Platz so heißt? Und die Klassenkameradin hat gesagt: Wegen dem Polizisten. Und da hat die Tochter gesagt: ,,Weißt du, der Norbert - das war mein Vater.''

Wenn Sigrun Schmid von ihren Töchtern erzählt, ist sie voll Stolz und Wärme. Die Töchter kommen regelmäßig zu Besuch. Sie ist mittlerweile Oma. Sie sagt, damals hätten die Töchter sie davon abgehalten, aus dem Leben zu fallen.

Versuch der Frontaltherapie

Klaus Lohmann sagt, er würde einen gern in die Stadt zurückbringen, vielleicht zur Haltestelle Ochsenzoll. Sigrun Schmid sagt, sie käme gern mit. Sie werfen sich Jacken über, dann geht es los. Die Gespräche im Auto drehen sich jetzt um die Teiche, die Lohmann um das Haus herum angelegt hat. Er wollte immer am liebsten am Meer leben, und als das nicht klappte, hat er sich das Meer selbst ums sein Haus gebaut. Die Spannung lässt nach, und es ist für jeden befreiend, über Teiche und die Schönheit alter Bäume reden zu können.

Irgendwann sagt Lohmann, die Station Ochsenzoll sei nicht günstig, ,,ich bring Sie nach Poppenbüttel''. Sigrun Schmid nickt, bald hört man das Quietschen der S-Bahn, und man kann sich fragen, ob die beiden einen aus Höflichkeit hierher gebracht haben, wo alles angefangen hat. Oder ob das der Versuch einer Frontaltherapie ist: Man sucht den Ort, weil man sich von jeder neuen Konfrontation, jeder neuen Berührung verspricht, der Schmerz möge weniger werden irgendwann.

Klaus Lohmann hält am Wentzelplatz. Beide steigen aus, er zeigt das neue Polizeigebäude, dort ist der S-Bahnhof, das Einkaufszentrum Alstertal mit seiner Tiefgarage, die Straße Heegbarg, ganz hinten kreuzt sie den Saseler Damm.

Der Bettler sitzt noch immer da, sein Akkordeon wimmert. Man verabschiedet sich. Klaus Lohmann lächelt, Sigrun Schmid blickt über den Wentzelplatz. Da legt er ihr still eine Hand auf die Schulter.

© SZ vom 16.3.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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