Berliner Rütli-Schule:Neukölln, fremdes Land

Es ist die Lebenslüge der gutbürgerlichen Gesellschaft, dass sie integrativ sei. Die Neuköllner Schüler fühlen sich nicht als Mitglieder einer großen Gemeinschaft - und sie werden nicht so gesehen. Die Lösung? Ein unvorstellbar teures und mühsames Paket an Maßnahmen.

Cathrin Kahlweit

Polizisten riegeln das Schulgelände ab, Schüler brüllen Obszönitäten über den Zaun, Journalisten, aber auch rechtsradikale Provokateure drängen sich vor dem Tor, während sich im Schulgebäude Politprominenz die Klinke in die Hand gibt - die Rütli-Schule im Berliner Stadtteil Neukölln ist im Ausnahmezustand.

Neuköllner Rütli-Schule

Schüler der Neuköllner Rütli-Schule.

(Foto: Foto: AP)

Das war sie allerdings schon lange, nur hatte sich bislang niemand dafür interessiert.

Überraschend ist das nicht - denn die Hauptschule liegt, aus Sicht der deutschen Mehrheit, in einer unzugänglichen Gegend, in der Berliner Bronx, wo andere Gesetze gelten als in bürgerlichen Vierteln.

Neukölln ist Fremdenland, wer noch dort lebt und einen deutschen Pass besitzt, hat - so sehen es diejenigen, die fortgegangen sind - die Flucht nicht geschafft. Die Lehrer der Rütli-Schule überließ man daher, wie andere Schulen, Kindergärten und Sozialeinrichtungen auf dem Kiez, weitgehend sich selbst.

Jetzt propagiert der Berliner Senat Liebe statt Krieg

Nun aber macht sich Krisenstimmung breit angesichts der Berichte über eine Schule, in der ein Klima der Angst das Kollegium beherrscht und Machismo, Respektlosigkeit und Perspektivlosigkeit die Schülerschaft prägen, die zu mehr als 80 Prozent ausländischer Herkunft ist. Jetzt, da die Misere öffentlich gemacht wurde, propagiert der Berliner Senat Liebe statt Krieg.

Nun werden Sozialarbeiter und Schulpsychologen dorthin geschickt, die Zusammenlegung mit einer anderen Schule wird debattiert. Die späte, hilflose und durch die Skandalisierung der Ereignisse erzwungene Reaktion belegt indes nur, dass bislang wenig Interesse daran bestand, sich mit der Ursache der Misere zu befassen. Die liegt anderswo, und sie liegt nur zu einem sehr kleinen Teil in der Schule selbst.

Die Neuköllner Schule mit ihren Problemen steht stellvertretend für die Zustände an vielen Hauptschulen in Großstädten mit multiethnischer Bevölkerung und sich abschottenden Stadtvierteln. Sie sind symptomatisch für eine Zwei-Klassen-Gesellschaft, die zunehmend zu einer Zwei-Kulturen-Gesellschaft wird.

Das sind die Fakten, und sie gelten eben nicht nur für Neukölln: Jeder vierte türkische Schüler verlässt eine deutsche Schule ohne Abschluss. 40 Prozent aller Einwandererkinder bleiben ohne Berufsabschluss. Migrantenfamilien, die es in die Mittelschicht geschafft haben, ziehen fort aus Ausländervierteln und wechseln weg von den "Rest-und- Schrott-Schulen".

Auflehnung der Verlierer

Die Zurückgebliebenen, die Verlierer, organisieren sich in einer kulturellen Diaspora. Sie wachsen nicht selten auf in bildungsfernen, patriarchalisch strukturierten Familien; ihr Ehrenkodex kollidiert mit den Werten einer modernen, westlichen Leistungsgesellschaft.

Die Integrationsbereitschaft von Einwanderern der zweiten und dritten Generation nimmt ab, das Selbstbewusstsein einer wachsenden Zahl türkischer und arabischer Jugendlicher definiert sich durch die Nicht-Anpassung an die Ansprüche der deutschen Außenwelt.

Deutschland hat also ganz offensichtlich neue Ghettos. Diese liegen, lokal begrenzt, bislang nur in wenigen Großstädten. Sie befinden sich, sozial betrachtet, aber breit gestreut überall dort, wo eine nachwachsende Generation am unteren Ende des Bildungssystems laviert oder aus diesem herausfällt. Die Ghettos wachsen, kulturell gesehen, dort, wo Aufgegebene und Sich-selbst-Aufgeber den Aufstand gegen eine Mehrheit proben, der anzugehören sie nicht mehr zu hoffen wagen.

Manch einer macht es sich leicht, etwa der CDU-Kandidat Pflüger

Diese Entfremdung wird fatalerweise auf beiden Seiten akzeptiert, als sei die Abschottung einer kleinen, aber wachsenden Minderheit vom Rest des Landes ein Naturgesetz. Auf der - wollte man im Bild der USA und der Bronx bleiben - "weißen" Seite beginnt eine Schulddebatte, doch schuld sind "die anderen".

Manch einer macht es sich leicht, etwa der CDU-Kandidat für das Amt des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Friedbert Pflüger. Er schlägt vor, jugendliche Mehrfachstraftäter auszuweisen, und will wissen, dass man in den USA schon längst "durchgegriffen" hätte.

Neukölln, fremdes Land

Der Verweis auf die USA ist allerdings irreführend: Ein Durchgreifen wäre dort wahrscheinlich, aber wen, außer Illegale, wollte man ausweisen? Eben das ist der grundlegende Unterschied zwischen dem deutschen Verständnis einer Nation und jenem der Amerikaner: Dort gilt, dass der Kulturkampf der Ethnien im eigenen Land zu befrieden ist, denn es geht immer um: Amerikaner.

Die Schüler der Rütli-Schule, die für viele Problemschulen in Problemkiezen steht, sind in der großen Mehrheit keine Deutschen, selbst wenn einige einen deutschen Pass haben. Sie sehen sich nicht als Mitglieder einer großen Gemeinschaft - und sie werden nicht so gesehen. Also gehört es in diese Debatte, eine stärkere Anpassungsleistung von Migranten zu verlangen.

Deutsche Lebenslüge

Der Grundgedanke, dass Integration ein zweiseitiger Prozess ist, ist tatsächlich allzu lange vernachlässigt worden. Aber zu der Bringschuld auf der einen Seite gehört Ehrlichkeit auf der anderen. Es ist die Lebenslüge der gutbürgerlichen Gesellschaft und die Lüge deutscher Politik, dass sie integrativ sei: Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder durchaus auf multiethnische Schulen - auf internationale Eliteschulen.

Wer es sich leisten kann, sucht für seine Kleinen einen Privatkindergarten und fragt heimlich nach dem Ausländeranteil im städtischen Hort. Schulen in Vierteln mit hohem Migrantenanteil bekommen meist weniger Geld und weniger Personal als Gymnasien, Problemschulen werden allein gelassen und sind damit überfordert, den Zusammenprall vieler Kulturen mit Anstand zu organisieren.

Eine nach Aufstieg und Wohlstandssicherung strebende Gesellschaft hat einen Teil ihrer Mitbürger abgeschrieben. Das tut, vorerst, nur finanziell weh: Die Modernisierungsverlierer werden für den Produktionsprozess derzeit nicht gebraucht; in der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft wird das Proletariat der Schulabbrecher und Ungelernten als Ballast einstweilen mitgeschleppt.

Ein unvorstellbar teures und mühsames Paket

Weil aber nach greifbaren Ergebnissen gerufen wird, wird wieder über die Idee diskutiert, das Drama der "Restschule" zu beenden. Das deutsche Schulsystem zu reorganisieren und die Dreigliedrigkeit abzuschaffen, hat theoretisch einiges für sich. Denn die Idee lebt von der Hoffnung, Ghettoisierung zu vermindern und Chancengleichheit zu erhöhen.

Aber abgesehen davon, dass der Bildungsföderalismus einheitliche Reformen fast unmöglich macht, gilt: Auch in einem integrierten System würde es dieselben Verlierer geben wie zuvor, wenn sie nicht von Anfang an in einer anderen Kultur aufwachsen.

Dazu gehören Kindergärten für alle, Sprachförderung von früh an, muttersprachliches Personal, Sozialarbeiter, Psychologen und Kultursoziologen für Schulen. Dazu gehört das Aufbrechen von monoethnischen Kiezen durch zukunftsweisende Stadtplanung, dazu gehört Gewaltprävention, Armutsbekämpfung - das ganze, unvorstellbar teure, mühsame Paket. Die "weiße" Seite muss das wollen, die Mehrheit diesseits der Bronx.

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