Berliner Politik:Kanzlerrunde bei gedämpfter Stimmung

Das gemeinsame Gefühl des Ausgeliefertseins hat halsstarrige Minister und forsche Oppositionspolitiker besänftigt - für eine gewisse Zeit

Christoph Schwennicke

(SZ vom 17.09.2001) - Berlin, 16. September - Warten auf das, was kommt. Man darf sich das - in diesen Tagen mehr noch als sonst - in der Berliner Politik ruhig so ähnlich vorstellen, wie es jeder auch zu Hause erlebt. Trifft man sich etwa am frühen Morgen mit jemandem wie Rezzo Schlauch zum Frühstück, werden in diesem Gespräch wie in jedem anderen im Kreis persönlicher Bekannter auch die jüngsten Eindrücke aus dem Fernsehen, vornehmlich von CNN, ausgetauscht. Der einzige Unterschied ist vielleicht, dass der Grünen-Fraktionschef nicht mehr die ganz große Furcht vor der drohenden Nachricht hat, wenn er den Fernseher morgens einschaltet. Er hat mehr Angst, wenn nachts das Handy klingelt. Ein paar Mal war es schon so. Bis jetzt nie wegen der einen entscheidenden Nachricht, dem Gegenschlag der USA.

"Was wollen Sie von mir wissen? Ich weiß doch auch nichts." Ehrlicher als zu normalen Zeiten, in denen er gerne als Schutzschild gegen bohrende Fragen verwandt wird, wirkt dieser Satz von einem Koalitionspolitiker wie Schlauch. Und weil Bundeskanzler Gerhard Schröder die Partei- und Fraktionsspitzen laufend über aktuelle Ereignisse unterrichtet hat und sich niemand aus diesem Kreis über seine Informationspolitik beklagt, darf daraus geschlossen werden auf ein allgemeines Gefühl des Ausgeliefertseins an die Dinge, die nun kommen werden. Sicher weiß man nur eins: Sie werden kommen, und sie werden nicht ohne Folgen bleiben. Auch nicht für die Bundesrepublik und die Berliner Politik.

Das Bundeskanzleramt, dessen ästhetisch-architektonische Offenheit und Durchlässigkeit gerade noch Gegenstand feuilletonistischer Betrachtungen war, ist zu einer Festung geworden. Die Berlin-Besucher, die auch an diesem Wochenende Reichstag und Kanzleramt umspülen, können nicht auf den Flanierstreifen und ihre Schnappschüsse machen. Ein türkisfarbenes Sicherheitsgitter ist am Dienstagnachmittag aus dem Boden gefahren und trennt den Volkskanzler seither von seinem Volk. Neugierige Spiegel an langen Stangen streichen unter dem Bauch vorfahrender Autos entlang. Ihre Fahrer müssen den Kofferraum aufmachen. Das Ganze vollzieht sich in einem tiefen Ernst.

Vom Schreibtisch gewischt

Dieser Ernst. Politik in Berlin ist seit dem vergangenen Dienstagnachmittag nicht mehr die gleiche, die sie noch am Morgen dieses 11. September war. Mit einem Schlag haben sich die Überspanntheiten gelegt, die den politischen Betrieb so oft bestimmen. Maßstäbe und Prioritäten haben sich plötzlich geändert, und vieles, was am Montag noch wichtig war, konnte mit einem Mal sehr gut einstweilen auf sich beruhen. Es ist, als hätte eine große unsichtbare Hand den wuchtigen Berliner Schreibtisch mit all seinen Zetteln und Aktentürmen aus vermeintlich Wichtigem mit einem Streich leergewischt.

Ganz nebenbei sind auch Koalitionskrisen, liebestolle oder halsstarrige Minister, der Streit ums Geld und seine Verwendung zu Boden gefegt worden. An ihre Stelle sind Krisenstäbe getreten, das Sicherheitskabinett, eine tägliche "Lage" der Staatssekretäre aus den involvierten Ministerien bei Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier, der sich nun auch als Koordinator der Geheimdienste in Erinnerung ruft.

Dass sich hier etwas geändert hat, wird bis weit in jene Kreise so gesehen und begriffen, die sich nicht von Amts wegen in erster Linie mit den inneren und äußeren Sicherheitsbelangen dieses Landes und der Welt auseinander setzen. Ottmar Schreiner zum Beispiel, ein in politischen Auseinandersetzungen nicht zimperlicher Arbeits- und Sozialpolitiker der SPD-Fraktion, wird zum nachdenklichen Dialektiker. "In so einem Moment wird einem wieder bewusst, dass die Bindungen stärker sind als die notwendigen Differenzen", sagt mit Blick auf das Verhältnis der Parteien also jemand, der sonst keiner verbalen Rauferei mit den bösen Buben des Neoliberalismus abgeneigt ist. "Damit relativieren sich auch die notwendigen Differenzen."

An keiner Figur lässt sich dieser einstweilen totale Wechsel der Vorzeichen beispielhafter festmachen als am Verteidigungsminister. Am Vormittag des vergangenen Dienstag hieß Rudolf Scharpings ärgster Feind noch Paul Breuer und kam aus der Unionsfraktion, und der Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt (IBuK) stand in der Gefahr, in seiner Liebesleidenschaft endgültig zur tragikomischen Figur zu werden. Seine Fluglisten wurden geflöht, es ging um einen "Geheimnisverrat". Kurz vor dem ersten Einschlag einer Boeing in das World Trade Center in New York warf besagter Paul Breuer Scharping gar vor, er habe kaum reparablen Schaden durch die Düpierung eines Nato-Partners angerichtet.

Wenige Stunden später findet sich Scharping in seiner Funktion als IBuK im Bundessicherheitsrat bei Kanzler Schröder wieder. Und der Nato-Rat muss sich einige Stunden später nicht mit einer Causa Scharping, sondern mit der Frage von Artikel 5, also der kollektiven Verteidigung des Bündnisses, auseinander setzen. Am Wochenende ist Scharping dann schon wieder so weit Verteidigungsminister, dass er via Interview vorauszusagen weiß, in der Frage eines Bundeswehreinsatzes an der Seite der Amerikaner könnten im Laufe diese Woche "erste Entscheidungen" anstehen. Das vermittelt in der allgemeinen Ungewissheit schon wieder den Eindruck, als wüsste einer Genaueres, und zwar der Verteidigungsminister.

Der Chef hat das Wort

Und der Kanzler? "Jetzt", sagt SPD-Fraktionschef Peter Struck ohne jedes Zähneknirschen eines Parlamentariers, "ist die Stunde der Regierung und von Gerhard Schröder." Und so neu das Geschehen für Rotgrün und dessen Oberhaupt ist: Wieder ist der Umstand einfach nicht zu ignorieren, dass Gerhard Schröder für solche Situationen geschaffen zu sein scheint. Niemand spricht ihm die Fähigkeit ab, auf dem dünnen Firnis der tatsächlichen Möglichkeiten das Richtige zu sagen, zu tun und zu lassen. Da versagt nicht einmal das ewige Lästermaul Michael Glos seinen politischen Respekt: "Er ist die stärkste Figur, zusammen mit Otto Schily", urteilt der CSU-Landesgruppenchef auf Grund seiner Eindrücke in den diversen Runden: "Alles andere fällt weit und brutal ab."

Wer den Regierungschef in diesen Tagen leibhaftig zu Gesicht bekommt, kann durchaus beeindruckt sein - zumal im Vergleich zur Frühzeit seiner Kanzlerschaft. Wenn Schröder seinerzeit über ein komplexes außenpolitisches Problem redete, erging er sich oft in Gemeinplätzen. An seiner Seite saß stets sein Berater Michael Steiner, der immer dann verbal einsprang, wenn es um die Genauigkeit des Ausdrucks oder die Darstellung verschlungener Dinge ging. In dieser heutigen Vorkriegszeit aber kann man nächtens im Kanzleramt einen Hausherrn erleben, dem Steiner zwar zur Rechten sitzt, dabei aber die meiste Zeit aus den großen Panoramafenstern des Kanzleramtes auf die glitzernde Silhouette des Potsdamer Platzes blickt. Schröder spricht und spricht und fast alles hört sich so an, als habe er wirklich verstanden, wovon er redet. Offenbar ist der Mann aus Hannover am Ende des dritten Jahres seiner Amtszeit da angekommen, wo manche Präsidenten und Kanzler nach ihrer ersten Regierungsperiode angelangen: Die Außenpolitik nimmt Schröder mehr und mehr gefangen, sie interessiert ihn auch mehr und mehr.

Starkes Duo

Dies passt zur einzigen entente cordiale, die sich in diesem Kabinett gebildet hat. Kanzler Schröder und seinen Außenminister Joschka Fischer verbindet ein von gegenseitigem Respekt geprägtes, nahezu freundschaftliches Verhältnis. Fischer erkennt in Schröder stets den führungsbegabten Chef an; Schröder bewundert in Fischer den self-made-Intellektuellen mit volkstümlichem Touch. Hans Eichel steht zwar ebenfalls hoch in Schröders Gunst, aber er ist in erster Linie ein loyaler Leutnant. In Zeiten der Krise, wie zuerst im Kosovo-Krieg und jetzt beim Terror-Konflikt, ist die Achse Schröder-Fischer wichtig.

Dass auch der von Schröder als knorriger Aufrechter geschätzte Otto Schily zum Krisenkabinett gehört, stabilisiert das Entscheidungsgremium.

Seit dem Kosovo-Krieg, so urteilen Koalitionäre über ihre beiden Obersten, seien Schröder und Fischer im übrigen noch enger zusammengerückt, als sie es vorher schon waren. Maßgeblich dafür verantwortlich gemacht wird der bei Schröder zu den bislang einschneidendsten Europa-Erlebnissen zählende EU-Gipfel von Nizza. Wie Fischer da, sonst nicht eben selbstlos, für Schröder als regelrechter Sherpa gearbeitet habe, werde Schröder diesem nicht vergessen, heißt es. Das Vertrauenskapital, das der Vizekanzler so beim Kanzler geschaffen hat, könnte sich jetzt bezahlt machen.

Die Bilder aus der Hedwigs-Kathedrale bei der Trauerfeier vom Freitag, als Regierung und Opposition traulich vereint zu sehen waren, die Bilder vom Brandenburger Tor, als alle Parteichefs des Landes Seite an Seite standen und dem amerikanischen Botschafter, dem Bundespräsidenten und der Sängerin Jocelyn B. Smith andächtig zuhörten, außerdem die Solidaritätsadressen der Opposition an die Regierung: das alles vermittelt kein falsches Bild einer schlagartigen Geschlossenheit. Aber eines, das der Präzisierung bedarf.

Stoiber agil, Merkel naiv

Tatsächlich kommt manches nur im Gewande eines Hilfsangebotes daher, das in der Regierung als so selbstlos dann auch wieder nicht verstanden wird. Dazu gehört etwa das heiße Bemühen von CSU-Chef Edmund Stoiber um einen Nationalen Sicherheitsrat. Bei diesem Vorschlag vermuten die Koalitionäre mehr das Bestreben um die eigene Bedeutung als die Sorge ums Land. Das mache der doch nur, um dann da drin sitzen zu können und hinterher rauszutreten und sagen zu können: "Wir haben soeben beschlossen..."

Überhaupt wissen die Teilnehmer diverser Informationsgespräche beim Kanzler Aufschlussreiches über das unterschiedliche Gebaren von Edmund Stoiber (agil, engagiert) und CDU-Chefin Angela Merkel (passiv, bisweilen naiv nachfragend), woraus sofort wieder Indizien für die Frage der Kanzlerkandidatur abgeleitet werden. Oder es wird berichtet von Nickeligkeiten und argwöhnischen Blicken zwischen Grünen und FDP, die sich nur vor dem Hintergrund des Buhlens um die Kanzlergunst erklären.

Schnell, sehr schnell nach den Momenten des Innehaltens hängt auch die Frage nach Eichels Haushalt und einem etwaigen Nachschlag für Scharpings Bundeswehr in den Vorhängen der politischen Kulisse, die nach einem angemessenen Zuwanderungskonzept sowieso. Es relativiert sich also auch nach wenigen Tagen der Eindruck, dass Politik in Berlin nach dem 11. September wirklich von einer anderen Kultur sein könnte.

Eine neue Kultur in der Politik?

Die hohe Wahrscheinlichkeit, dass wieder die archaischen Mechanismen und Reflexe das Geschehen auf der Berliner Bühne bestimmen könnten, betrifft im übrigen nicht nur das Verhältnis von Regierung und Opposition. So wie nach dem 11. September nichts mehr ist, wie es war, werden sich auch nach dem bevorstehenden amerikanischen Vergeltungsschlag die Dinge in Berlin vermutlich wieder anders darstellen.

Zunächst hat Gerhard Schröder aus seinen Regierungsfraktionen ein außergewöhnlich hohes Maß an Rückhalt erhalten. Und dennoch liegt der Bestand dieses Rückhaltes in den Händen anderer. "Jeder wird sich die Frage der Verhältnismäßigkeit stellen", sagt ein hoher Parteimensch aus der SPD, "ich kann mir schon vorstellen, was los ist, in meiner Partei und bei den Grünen, wenn da auf CNN die Bilder von toten Kindern kommen."

Am Freitag waren es in Berlin über 200000 Unterstützer, denen sich Gerhard Schröder am Brandenburger Tor gegenübersah. Aber ihr Beistand scheint durchwegs konditioniert, am knappsten zusammengefasst auf dem Schild eines Mädchens: "Trauer, aber kein Krieg." Wird dieser Wunsch missachtet, so muss es Schröder klargeworden sein, werden die gleichen Menschen wiederkommen, um zu demonstrieren - dann aber nicht für, sondern gegen den großen Bündnispartner USA.

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